Urlaubszeit in Deutschland: Sehnsucht nach Sand

Die Ferienzeit hat begonnen. Koffer werden gepackt. Kleingeld für den ersten Espresso am Flughafen nicht vergessen. Sieben Ausrufe zum Fernweh.

Alles, was man haben will: ein Plätzchen am Strand Foto: dpa

Banale Tätigkeiten können große Gefühle auslösen. Und welches Gefühl kann größer sein in diesen Tagen, als das des nahenden ­Urlaubs, der Sommerfrische am Meer; welche Tätigkeit banaler, als Müll vor die Tür und zu den Mülltonnen zu tragen?

Ich, stinkende Tüten verschiedener Abfallgattungen in der Hand, von Fruchtfliegen umweht, trat vor das Haus, das Ziel klar vor Augen, die grüne, schwarze, gelbe Tonne in ihren kleinen Holzhäusern. Und dennoch ließ mich ein Rauschen verharren, ein Moment des Wegsehnens, fließend übergehend ins kurzzeitige Wegsein; die stinkende Last: vergessen.

Müll in seiner reinsten Form, aber auch der Kopf voller trister Gedanken: Brexit. Dallas. Boatengs Wade. Trumps Haare, Johnsons Haare, irre Gedanken. Ihre, meine.

Das Rauschen. Es war wie eine Erlösung. Zwar nur ordinäre Berliner Straßenbäume – nicht mal Linden –, aber in dem Moment das Sinnbild der nahenden Ferien. Der genau gleiche Soundteppich wie in unserem Feriendomizil in der südlichen Nordsee. Eine Wohnung unterm Dach, man schläft mit dem Laubrauschen ein und wacht damit auf. Dort sind es Pappeln, aber das spielt keine Rolle.

Komisch, aber der Reiz ist das Wiederkehrende. Das Rauschen, das immer da ist. Die Frau mit der grünen Schürze, die wahrscheinlich auch jetzt schon an uns denkt, der wir ihre – sündhaft teuren, sündhaft leckeren – Reineclauden abkaufen werden. Ein rotes Laufrad, das auf uns wartet. Sand überall, piksende Muscheln unter den Füßen. Kaltes Meer, warme Luft, heiße Strandpommes, gierige ­Möwen. Hach! Klappe auf, Müll weg. Die Abreise naht. FELIX ZIMMERMANN

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Türkis und fast transparent

Dass das Meer nirgends schöner ist, türkis und fast transparent, du siehst bis auf den Grund –, vielleicht ist das eine Übertreibung, die in meiner Familie ganz langsam Wahrheit wurde. Sollte die Farbe des Wassers nichts als eine Verklärung sein, sie wird gepflegt und hält sich standhaft.

Anfangs gab es nur die paar Fotos, eingeklebt in ein Album, dessen Ledereinband bröckelt – unterschrieben mit „Das Strandleben unserer Kinder“: Wir sitzen im Sand, eine Schwester liest, die andere hält einen Schwimmreif.

Allmählich veränderten sich die Konstellationen, wir verreisten nicht mehr gemeinsam; jede war jetzt für sich und reiste irgendwohin. Und doch: Jahre später kam jede zurück, kam wieder in Olbia an, zurück auf Sardinien, wo das Mittelmeer am klarsten sein soll.

Diesen Text finden Sie auch in der taz.am wochenende vom 16./17. Juli, die sich ansonsten eingehend auf mehreren Seiten mit dem schrecklichen Anschlag von Nizza beschäftigt. Außerdem: Früher fiel Thomas de Maizière mit Besonnenheit auf. Heute gilt der Innenminister als Reizfigur. Wie er seinen Wandel rechtfertigt. Und: Dank Hans Wall gibt es sich selbst reinigende City-Toiletten. Ein Gespräch über Geld und die AfD. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Sardinien, bisschen Wüsteninsel, nicht klassisch-paradiesisch. Bisschen vertrocknet, an der Westküste zu windig, an der Ostküste zu heiß. Wie schlecht einem hier von den Serpentinen wird, wie endlos lange die sich ziehen, der Staub legt sich über den Fiat, der Fiat wird zum Geländewagen; jetzt könnten wir langsam mal da sein, oder?, nee, links, rechts und weiter.

Wir könnten jetzt vom ersten Glas Lemon Soda träumen, vom ersten Eis, Espresso für einen Euro. Dem ersten Mal Schnorcheln, einem Knurrhahn hinterher. Aber in den Fiat drängt Luft von außen und innen wächst das Gefühl, sonst nichts zu brauchen.

Dass uns diese Anspruchslosigkeit überfällt, allein. Dass – aus dem bloßen Wunsch, auch woanders zu Hause zu sein – die Spießigkeit ganz selbstverständlich aus uns rausquillt: Später staune ich nicht, als die Freundin, mit der ich oft verreise, Handtuchhaken aus ihrem Koffer zieht und neben dem Spülbecken unserer Ferienwohnung befestigt.

Und gerade ist es eigentlich schon das – dieser Moment: landen, schwitzen, die erste Fahrt. Das Déjá-vu: Übermüdet durch die Kurven, man ist viel zu früh los, hat fahrig irgendwas eingepackt; die Haut ist weiß. Keine Ahnung, wie das alles werden und wo überhaupt das viel gepriesene Salzwasser sein soll; wir rauschen durch die Steppe wie zwei Teenies, die gerade das Erwachsenenuniversum verlassen haben. Es läuft Moderat, die beste Band der Welt, es geht durch Schlaglöcher, rumpelt, holpert, und meine Freundin schläft ein, die Karte auf dem Schoß. ANNABELLE SEUBERT

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Die Alpen hinter sich

Für den ersten Espresso muss man die Alpen hinter sich gelassen haben. Die Oleanderbüsche blühen auf dem Mittelstreifen, die Hitze flirrt auf abgeernteten Feldern und die Lüftung pumpt das trockene Parfüm aus Diesel, Hitze und Güllegestank ins Wageninnere.

Dann endlich taucht das Schild auf: Paganella Est, kurz vor dem Gardasee. Mein Autogrill, 24 Stunden geöffnet. Die Anonymität ist perfekt. Mehrere Reihen von Autofahrern drängen um den Tresen, Sonnenbrillen aus dem Gesicht geschoben, lässig den Scontrino, den Kassenbon, in der Hand. Bella figura eben.

Erst zahlen ist hier Prinzip, Kaffee gibt es nur gegen den Kassenzettel. Da wird keine Ausnahme gemacht, nicht für Deutsche, Japaner oder Chinesen. Sollen sie ruhig denken, dass ein Aufnahmeritual notwendig ist für den kleinen Schluck schwarzer Brühe.

Schaffen sie es irgendwie an die Kasse, wird ihnen klar gemacht: In Italien heißt es Café, nicht Espresso. Aus den Ventilen schmaucht und dampft es, die Mühlen rattern, nur der Kaffee sickert langsam und ruhig als hellbraune Crema aus unzähligen Siebträgern hinter der Bar. Es ist Massenabfertigung. Auf jeden Scontrino wird eine kleine Tasse gestellt.

Nun noch schnell das Zuckertütchen aufgerissen. Es sind nur zwei Schluck: heiß, bittersüß, schokoladig und kratzend. Ciao, Italia. Der Geschmack hält im Mund, fast bis Chianti Ovest, der ersten Brückenraststätte auf der Autostrada, drei Stunden später.

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Heißer Sand

Perfekt ist es, wenn wir es gerade so über die Dünen geschafft haben: die Fußsohlen warm, vielleicht brennen sie leicht. Manchmal jedoch ist es so, dass es zu sehr schmerzt, dass geschrien wird, dass mitten auf der Düne die Schuhe wieder angezogen werden müssen. Oder jemand – in aller Regel ich – hat die Schuhe gar nicht dabei, weil er die Kapitulation nicht einkalkuliert hat, und muss sich dann eine Behelfsbrücke aus Handtuch und T‑Shirt legen.

Schafft man es barfuß über die Dünen? Oder schafft man es nicht? Es wechselt, je nachdem, wie hoch die Sonne steht und wie schnell man läuft. Sonst bleibt sich das Meiste gleich in Cap Ferret an der französischen Atlantikküste. Wir frühstücken nach und nach, niemand räumt den Tisch ab, weil doch noch irgendwo jemand schläft.

Wir beratschlagen über den nächsten Ausflug, den wir dann wieder vergessen. Wir pflücken Brombeeren. Rufen bei Chez Hortense an, um zu reservieren, was dann nicht klappt. Manchmal nerven wir uns, zischen uns an. Seltsamerweise kam es nie zum großen Drama, doch wie das abläuft, darüber gibt es den Film „Kleine wahre Lügen“. Er spielt: auch in Cap Ferret.

Es ist ein Film über Freunde, Familie, den Sommer, die Liebe, den Tod. Am Schluss kommt die stärkste Passage, sie löst den großen Streit auf, weil sich Jean-Louis, der Austernfischer mit den Riesenpranken, in seinen roten Citroën-Kastenwagen wirft und gen Paris rast. Den Film haben im ersten Jahr mehr als fünf Millionen Französinnen und Franzosen gesehen, man muss sagen: leider.

Denn seither fluten sie Cap Ferret, sie stürmen den Leuchtturm, sie stauen sich auf den engen Straßen. Touristen. Sie sind stoisch wie Schafe, dabei wäre ein bisschen Rebellion hilfreich, wenn man bedenkt, dass bei etwa 3.000 Menschen zur Marktzeit keine einzige öffentliche Toilette zur Verfügung steht und die Angestellten im Frédélian, einem etwas eitlen Salon de Thé, für gewöhnlich behaupten, dommage, das WC sei kaputt. Kurz: Der Ort ändert sich.

Aber ich will ja nicht dorthin, weil sich nie etwas ändert. Das Zu-Hause-Gefühl im Urlaub stellt sich aus anderen Gründen ein.

Heimat entsteht durch Erlebnisse, auch in den Ferien. Dann ist man wieder ein paar Wochen da und erinnert sich an all die Sommer, ans Küssen, ans Vermissen, wie man verzweifelt nach dem Hund gesucht hat, wie man zu siebt das Auto der Nachbarn aus dem Matsch schaufelte. Und an das Pistazieneis an dem Abend, als Hortense plötzlich Plätze hatte. GEORG LÖWISCH

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Mit dem Rücken zum Meer

Die Insel Porto Santo liegt im Atlantik und ist die kleine, hässliche Schwester der Blumeninsel Madeira. Ein karger, öder Ort mit Wasser- und Erosionsproblemen. Sein einziger Vorteil: ein langer, sandiger Strand.

Das Kulturleben beschränkt sich auf ein kleines Christopher-Columbus-Museum. Der Mann soll hier einige Jahre vor seiner Entdeckungstour gelebt haben. Es scheint schlüssig: Wer hier länger war, will in eine neue Welt. Die etwa 5.000 Bewohner sind eher lethargisch und unfreundlich; sie versuchen mit einem ordentlichen Schuss Macieira im Espresso über den Tag zu kommen.

Indes sind die Einheimischen ziemlich eifrig, wenn es darum geht, ihre Insel zu verschandeln. In ihre historische Altstadt haben sie ein überdimensioniertes Kongresszentrum gestellt, das niemand braucht.

Restaurants und Cafés werden hier gern mit dem Rücken zum Meer, aber mit Blick auf die Tankstelle oder Straße gebaut. Das Essen ist schlicht, der kulinarische Höhepunkt ist ein Backfisch mit Banane, dazu wird Reis mit Pommes serviert. Reiseveranstalter preisen die Insel als herrlich unaufgeregt. Eine schöne Umschreibung für „Hier werden Sie garantiert nichts erleben“.

Und trotzdem: Genau deshalb ist die Insel seit 30 Jahren mein Urlaubsfavorit. Nirgendwo kann ich mich besser von Berlin erholen. Ich wohne immer im selben Haus und kenne mich dort so gut aus wie daheim. Es gibt keinerlei Überraschungen, es sei denn, die Urlauber, die vor mir da waren, haben den Korkenzieher in die falsche Schublade gelegt.

Mein Lieblingsplatz ist die Veranda. Auf ihr verbringe ich meine Tage und starre aufs Meer. Nur morgens kann und muss ich kontrollieren, ob die Fähre aus Madeira pünktlich hinter dem Felsen hervorkommt. Es ist die einzige Aufregung des Tages. Einmal in der Woche kommt die Nachtmaschine aus Lissabon. Lange vor der geplanten Ankunft postiere ich mich auf der Veranda und horche in den Nachthimmel, bis sie endlich auftaucht. Da der Flughafen hinterm Haus liegt, kann ich die Landung beobachten. Mehr Abwechslung gibt es nicht.

Nach Weihnachten fliege ich wieder hin und freue mich jetzt schon auf die langweiligen Tage. ISABELL LOTT

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Alles wie immer

Kurz hinter Kristianstad ist Schweden so, wie man es erwarten darf: hügelig, waldig, felsig unter und felsig über der Erde. Dazu die Seen, die stillen Gewässer überall. Die Häuser sind rot. Falunrot. In dieser Pippi-Langstrumpf-Farbe, die das Holz isoliert. Das sieht seit so vielen Jahren immer gleich aus. Immer gleich. Unruhig wird man nur, wenn plötzlich etwas anders ist. Waldstücke, die abgeholzt wurden und nun versehrt, verstümmelt wirken.

Oder wenn die alte Tankstelle nicht mehr existiert, Lasse, der Pächter, hat sie aufgebaut in den Fünfzigern, ein Hipster der Freiheitsidee – für das Auto, das in die schwedische Welt trug, hatte er den Treibstoff. Nun ist er gestorben mit 83 Jahren.

Alles andere ist wie immer. Und das muss so sein, sonst beruhigen Ferien nicht. Im Garten die heranreifenden Äpfel, der gemähte Rasen duftig. Die Mücken lästig, aber sie würden fehlen, stächen sie nicht. Selbst sie nämlich gehören zu diesem Bild, das so viele Monate ersehnt worden ist. Und die Sonne, nirgends ist der Sommer satter und seliger als in Småland, weil die November und Februar so grau und trist sind.

Aus dem Radio Tommy Körberg, ein sehr altes Lied: „Allting är så mysigt och skönt“, alles ist so gemütlich und schön.

So viele Jahre schon diese Landschaft gesucht, von ihr aufgenommen, von den seltsamen Menschen, die Snus in sich aufnäseln, Kautabak, von den Frauen, die diese gewisse Strenge der Prusselise, dem Benimmmonster aus Pippi Langstrumpf, haben, von den Männern nach der Forstarbeit, die in der kommunalen Sauna raunen und tratschen. Nie ist es langweilig, weil es immer das Gleiche bleibt.Was als Ortschaft mehr als 10.000 Einwohner hat, gilt als Stadt. Lohnt auch mal, Växjö oder Kalmar – aber es lärmt dort schon, auch wenn der Krach kaum lauter ist als Geräusche am frühen Morgen in Berlin. Weg, bloß weg, aufs Land, an die Seen, die weiten Himmel am Åsnen, der Seenplatte, über ihr die Wolken, wie gepinselt. Das Wasser plätschert, Fische schwimmen träge umher, es ist Sommer, und so muss es bleiben. JAN FEDDERSEN

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Hin und zurück

Einmal Ferien und zurück. Transportmittel machen den Übergang von einem Zustand in den anderen möglich. Bahnhöfe, Flughäfen sind die Übergangsorte dazu. Jemand übernimmt dort das Kommando. Vor allem an Flughäfen. Mit dem Check-in wird die Kontrolle über das eigene Leben abgegeben. Ein wunderbarer Zustand, Ferien vom Ich vor den Ferien.

Flughäfen sind Gebärmütter, in denen man geleitet und genährt wird. Gut, ich zahle dafür, aber – mal ehrlich – spielt am Flughafen Geld eine Rolle? 2,70 Euro für einen Espresso? Oh. Aber je länger sich der Geburtsvorgang – der Abflug – hinauszögert, desto bereitwilliger darf es auch mehr sein.

Im Uterus des Urlaubs muss die Versorgung stimmen, sonst dräut eine Fehlgeburt. Manchmal gehe ich früher dorthin als nötig, um in wohlige Regression zu fallen. Gut, am Bahnhof ist meine Sorglosigkeit nur auf Mittelmaß, ein Espresso, eine Zeitung – würde ich den Zug verpassen, ein Riesenproblem wäre es nicht. Bahnhöfe sind Uteri von emanzipierten Müttern, die Selbstständigkeit trotz aller Gängelei noch erlauben.

Am Flughafen ist die Sache anders. Einmal im Sicherheitsbereich, wird man von einer Muttermaschine umsorgt. Die Überwachungskameras sind ihr Auge. Wohl könnten selbst Herztöne registriert werden; schwächelte ich, schon wäre Hilfe zur Stelle.

Ich schwächle nicht, ich warte. Nach dem Espresso gibt es bei Carluccio’s – wir befinden uns in Heathrow – noch Ravioli mit Pinienfüllung. Eine Frau allein im Restaurant? Kein Problem. Hier bin ich nicht Frau, sondern Reisende. Zu zweit wäre ich Zwilling.

Und dann, welch Vergnügen, sich durch die teuersten Läden zu arbeiten, Wünsche aufsteigen zu spüren, es ist wie das erste Mal atmen: diese Tasche von Furla, dieser Rucksack von Victorinox – seit Zürich geht er mir nicht aus dem Kopf. Im Duty-free lasse ich mich mit Düften einnebeln, und ist ein Kiehl’s dort, gehe ich hin und frage, ob sie eine Handcreme hätten. Haben sie, das weiß ich. Eine teure. Ich bitte um eine Probe.Eines Tages werde ich nicht um eine Probe bitten, sondern sie kaufen. Am Ende kauft man es immer. Auch den Darjeeling First Flush von Fortnum & Mason. 25 Euro 100 Gramm. Denn je länger ich im Übergangsuterus bin, desto stärker die embryonale Gier. WALTRAUD SCHWAB

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