Protest und Repression in Frankreich: Da musst du durch

In Frankreich demonstrieren die Menschen erbittert gegen neue Sozial- und Arbeitsmarktgesetze. Deutschland schaut weg. Warum?

Ein Polizist hält seine Hand und sein Schild direkt in die Kamera

Es gibt hier nichts zu sehen. Oder gerade doch Foto: dpa

Was ist in Frankreich los? Schauen wir den Film im Schnelldurchlauf an: Eine sozialdemokratische Regierung beschneidet Arbeitnehmerrechte, wie es vor ihr keine konservative Regierung gewagt hat. Sie klammert sich an ein Gesetz, das von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnt wird. Da sich dafür nicht einmal im Parlament eine Mehrheit findet, setzt sie es ohne Abstimmung durch. Dafür wird ein Verfassungsparagraf angewendet, den Hollande eine „Demokratieverweigerung“ nannte, als er noch in der Opposition war.

Von Medien und Politik wird mit blanker Verachtung den Hunderttausenden begegnet, die seit drei Monaten Tag für Tag demonstrieren und öffentliche Orte besetzen. Das Innenministerium nutzt den seit den Novemberanschlägen immer wieder verlängerten Ausnahmezustand, um Grundrechte außer Kraft zu setzen. Willkürlich ausgesuchten Personen wird unter Androhung einer sechsmonatigen Inhaftierung ein Demonstrationsverbot erteilt.

Gegen Demonstranten und Streikende setzt die Polizei systematisch Tränengas, Gummigeschosse und Granaten ein. Seit Freitag schwebt ein Journalist in Lebensgefahr, nachdem ihn ein Polizist grundlos mit einer Granate beschoss. Gewerkschaftslokale werden verwüstet, Jugendliche zu haarsträubenden Strafen im Eilverfahren verurteilt. Trotz alledem nehmen die Streiks und Blockaden zu, und an der lästigen Güterknappheit, die sie verursachen, geben 62 Prozent der Bevölkerung der Regierung die Schuld.

Nun drängen sich einige Fragen auf: Wo bleiben die empörten Reaktionen aus Deutschland? Warum wird nicht vor der französischen Botschaft protestiert? Ist nicht die Bundesregierung verpflichtet, die Einhaltung der Menschenrechte in EU-Mitgliedsstaaten zu prüfen? Im Netz sind Szenen der Polizeigewalt dokumentiert, die man sonst aus Moskau oder Istanbul kennt. Sie sorgen zu Recht für Entrüstung. Aber warum nicht, wenn sie aus Paris oder Nantes stammen?

Hemmungsloser Waffeneinsatz

Nehmen wir zum Beispiel die neuen Werkzeuge der Ordnungshüter. Weil sie „nicht tödliche Waffen“ heißen (zu Unrecht, sie haben schon getötet), werden sie immer hemmungsloser eingesetzt. Und immer häufiger werden Demonstranten verletzt und verkrüppelt. In Rennes verlor ein Schüler ein Auge durch ein Hartgummigeschoss. Diese Militarisierung der Repression im liberalen Zeitalter wäre doch eine Untersuchung wert. Es sei denn, man geht davon aus, dass es im liberalen Zeitalter keinen legitimen Grund mehr gibt zu protestieren.

Überhaupt: Wie kommt es, dass alle deutschen Medien seit drei Monaten so dürftig über die Ereignisse in Frankreich berichten? Lange Zeit war im deutschsprachigen Internet so gut wie nichts über das Thema zu finden. Freunde von mir, die sonst gut informiert sind, fielen aus allen Wolken, als ich sie über diese Bewegung unterrichtete. Wenn überhaupt eine Reportage kam, dann über die folkloristischsten Aspekte der Nuit debout, damit der Leser in seinem Eindruck bestärkt wird, alle Linken seien harmlose Spinner. Neuerdings wird jedoch auf Panikmodus umgeschaltet, aber nur deshalb, weil die Fußball-EM im Streikchaos zu versinken droht.

Herablassend wird auf die Nachbarn geschaut: Sie haben gezögert, rechtzeitig die nötigen Reformen einzuleiten

Es wäre für einen Soziologen eine spannende Aufgabe zu untersuchen, welcher genaue Prozess innerhalb einer Redaktion dazu führt, dass über die größten Unruhen im Nachbarland seit Mai 1968 nicht berichtet wird. Spannender noch der Umstand, dass sämtliche Redaktionen einstimmig zum selben Schluss kommen. Nein, die Erklärung dafür ist keine vom geheimen ZK der Lügenpresse gesteuerte Verschwörung des Schweigens. Sie ist womöglich schlimmer: Es liegt an dem gleich formatierten Denkrahmen.

Im Grunde haben die meisten Journalisten, Analysten und Experten Deutschlands Verständnis für Hollande. Seine Mittel mögen nicht ganz koscher sein (ach, die Kommunikationsdefizite, die fehlende Konsenskultur!), aber sein Zweck ist heilig. Er will ja die Agenda 2010 in Frankreich endlich durchsetzen, und wer würde bestreiten, dass die schmerzhafte Kur nötig und erfolgreich ist?

Ob Mitte-links oder Mitte-rechts, alle sind davon überzeugt: Zugunsten aller siegte im Jahr 2003 in Deutschland die ökonomische Vernunft über ideologische Grabenkämpfe. Herablassend wird auf die gallischen Nachbarn geschaut: Denen geht es nicht so gut wie uns, weil sie gezögert haben, rechtzeitig die nötigen Reformen einzuleiten. Eine Agenda 2010 sei so etwas wie ein Beschneidungsritual: Sie tut weh, danach ist man aber erwachsen. Dagegen protestieren nur schwer erziehbare, veränderungsscheue Kinder. Ab und an muss die Rute ran.

Es kann nur einen geben

Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass die führende Wirtschaftsposition Deutschlands der Agenda 2010 gar nichts schuldet. Sie hat vielmehr mit Merkantilismus zu tun, mit dem Deal zwischen Industrie und Gewerkschaften (wir lagern nicht aus, ihr verzichtet auf höhere Löhne), mit dem darauffolgenden Exportboom. Ohne rot-grüne Reformen wäre das Ergebnis kaum anders ausgefallen. Dumm nur, dass lediglich einer Exportweltmeister sein kann. Das Erfolgsmodell lässt sich nicht nachahmen. Wohl aber Hartz IV, 1-Euro-Jobs und prekäre Arbeitsverträge. So etwas kann immer geklont werden, vorausgesetzt, Sozialdemokraten regieren.

Es ist der seltsame und einzige Mut von Hollande wie damals von Schröder, lieber dem politischen Tod entgegenzugehen, als auf ihre Reformen zu verzichten. Wenn die Sozialdemokratie ein Insekt wäre, dann eine männliche Gottesanbeterin. Nach der Paarung wird sie aufgefressen. Ihre Funktion besteht darin, den sozialen Organismus mit wirtschaftsliberalen Maßnahmen zu bespritzen. Hinterher bleiben nur noch die leeren Hülsen der SPD und der PS.

Gewiss sind hierzulande die Verarmten, Erniedrigten und Überarbeiteten anderer Meinung. Bis in die Kommentarspalte der Bild-Zeitung verkünden sie zuhauf ihre Solidarität mit Frankreich, eine Spätrache für ihre kampflose Niederlage. Sie begreifen konfus, dass es in dieser Bewegung nicht nur um Geld geht, sondern vor allem um Würde. Von dem Unmut profitieren momentan die Rechtspopulisten.

Rechts gegen die Entrechteten

Es wird oft behauptet, dass die Alternative für Deutschland ein Sprössling der Agenda 2010 sei. Das mag insofern stimmen, als die sogenannten Reformen mit dem Mantra verkauft worden waren, es gebe eben keine Alternative. Doch könnte sich diese Situation ändern. Da ist auch ein Blick auf die momentane Lage in Frankreich lehrreich. Bis dato gab sich der Front National als Hüterin der Entrechteten (vorausgesetzt, sie haben die richtige Hautfarbe).

Die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz hat aber ihr wahres Gesicht entlarvt. Jetzt wettert der Front National gegen Demonstranten und Streikende. Ohne zu zögern, hat er sich der wirtschaftsliberalen Reaktion angeschlossen. Zweifelsohne würde eine soziale Bewegung in Deutschland (an Wunder muss man glauben) dieselbe Wirkung auf die AfD haben. Die im Kern neoliberale Partei würde sich gegen die Benachteiligten unter ihrer Klientel wenden. Immerhin das wäre nun mal geklärt.

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Jahrgang 1959, ist ein französischer Schriftsteller und Philosoph. Er lebt seit 1992 in Berlin.

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