Neue Konzepte für Psychosepatienten: Reden mit dem Wahn

Wenige ambulante Therapeuten behandeln Psychosekranke. Neue Abrechnungsmöglichkeiten und Fortbildungen sollen das ändern.

Schatten an der Wand: Zwei Hände greifen nach einem Kind

Wenn die Angst aus dem Kopf nicht mehr rausgeht… Foto: dpa

BERLIN ta |z | Die 35-jährige Verwaltungsangestellte wird von ihren Eltern in die Klinik gebracht, sie ist außer sich vor Angst, ihre Augen flackern. Ein Kollege verfolge sie, flüstert sie der Ärztin zu. Er sei vermutlich gefährlich, und er sei in sie verliebt, deswegen habe sie eine gemeinsame Betriebsreise abbrechen müssen. Sie sei auf der Flucht.

Die Psychiaterin in der Charité geht mit ihr ein paar Runden im Garten spazieren und fragt behutsam nach. Ob sie ihr von dem Kollegen erzählen könne, und woran sie gemerkt habe, dass er verliebt sei. Was ihr Angst mache. Hier in der Klinik sei sie erst mal sicher und könne über ihre Ängste sprechen.

„Es muss zuallererst ein entängstigender Kontakt hergestellt werden“, sagt Dorothea von Haebler, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Berlin, „dabei wird auch der Wahninhalt ernst genommen.“ Von Haebler ist Vorsitzende des noch recht jungen Dachverbandes Deutschsprachiger Psychosen-Psychotherapie (DDPP). Der Verband hat eine curriculare Fortbildung entwickelt, mit dessen Hilfe Psychotherapeuten Sicherheit und Grundlagen für den Umgang mit Psychosekranken vermittelt bekommen.

Das Defizit zeigt sich in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung: Bei bis zu zwei Drittel der Patienten, die in psychiatrischen Kliniken aufgenommen werden, diagnostiziert man eine affektive oder schizophrene Psychose. Doch wenn die Menschen wieder entlassen werden, finden sie zwar einen Psychiater, der Medikamente verschreibt, meist aber keinen Psychotherapeuten, der sie – meist zusätzlich zur Medikation – in einstündigen Sitzungen und über einen längeren Zeitraum weiter behandelt und betreut.

Nicht mal ein Prozent der Patienten in ambulanten psychotherapeutischen Praxen sind Psychosekranke, so die Statistik. Die meisten Therapeuten scheuen diese Patienten und wenden sich lieber Depressiven oder Angstgestörten zu.

Oftmals entwickeln gerade sehr einsame Leute einen Verfolgungswahn

Doch es gibt neue Ansätze: Seit 2015 dürfen Psychotherapeuten auch vielstündige Psychotherapien von schizophrenen und affektiven psychotischen Störungen mit den Krankenkassen abrechnen, zuvor waren diese schweren Erkrankungen von dieser Abrechnung ausgeschlossen. Jetzt geht es darum, den Behandlern die entsprechende Nachqualifikation zu vermitteln. „Viele Therapeuten haben auch Angst vor diesen Patienten, sehen sie als schwer berechenbar an“, sagt von Haebler.

In der vom DDPP entwickelten Fortbildung beschäftigen sich die Psychologen und Ärzte daher auch mit ihrer eigenen therapeutischen Haltung, mit der Angst und Gegenübertragung und der Frage, wie man im Umgang mit Psychosekranken Offenheit und Authentizität bewahren kann. „Ratschläge, Deutungen oder das schnelle Drängen auf Medikamenteneinnahme schaffen ein Ungleichgewicht, können kontraproduktiv sein und sogar das eigentliche Dilemma des Patienten verstärken“, erklärt Dorothea von Haebler.

Alternativlösung für ein inneres Dilemma

Die Psychiaterin beruft sich auf den griechisch-deutschen Psychiater Stavros Mentzos, der eine akute Psychose als eine Art „Alternativlösung“ für ein inneres Beziehungsdilemma betrachtet: Der oder die Erkrankte stehen im Konflikt zwischen einerseits schrecklicher Einsamkeit, Losgelöstheit und andererseits der Angst vor Verschmelzung, dem Verschlungenwerden durch andere Menschen.

Oftmals entwickeln daher gerade sehr einsame Leute einen Verfolgungswahn und Verschwörungstheorien. Das schafft immerhin noch ein Gefühl von Eingebundensein in der Welt. „Die Verfolger-Verfolgte-Konstellation entspricht einer Art von ,Beziehung', einer Beziehung aber, innerhalb deren die Gefahr der Verschmelzung durch die strukturell eingebaute Feindseligkeit ausgeschlossen ist“, schreibt Stavros Mentzos.

Der Dachverband Deutschsprachiger Psychosen-Psychotherapie (DDPP e.V.) hat eine curriculare Fortbildung für die Psychosenpsychotherapie entwickelt, die als zertifizierte Fortbildung demnächst angeboten wird. (www.ddpp.eu).

DDPP-Vorsitzende Dorothea von Haebler ist auch Leiterin eines berufsbegleitenden Masterstudienganges zur Integrierten Versorgung psychotisch erkrankter Menschen an der privaten International Psychoanalytic University (IPU) Berlin, der in Kooperation mit der Charité, der Katholischen Hochschule für Sozialwesen und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) angeboten wird und an dem sich Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte einschreiben können.

In der curricularen Fortbildung des DDPP, welche keine sozial- oder berufsrechtlichen Konsequenzen nach sich zieht, beschäftigen sich die Therapeuten mit den verschiedenen Krankheitsphasen der Psychose. Eine instabile, besonders wahnhafte Phase erfordert oft einen direkteren, alltagsbezogeneren Umgang mit dem Patienten. Die Behandlerin fragt dabei nach den vorherrschenden Gedanken und Ängsten, benennt das Getriebensein oder die Angst des Patienten, erkundigt sich nach dem Erleben von Tagesabläufen und nach den Gefühlen im Zusammenhang mit Angehörigen.

Unterstützt werden dabei Kontakte, die der Patient zu diesem Zeitpunkt seiner Erkrankung selbst häufig nur schwer pflegen kann. In einer Phase der Ich-Instabilität müssen die Behandler besonders flexibel sein, schildert von Haebler. Das Curriculum betont daher auch die Zusammenarbeit der Therapeuten mit anderen Akteuren wie Angehörigen, Ärzten, Betroffenengruppen und Sozialarbeitern.

Suche nach dem Auslöser

In der ich-stabileren Phase kann der Therapeut oder die Therapeutin dann gemeinsam mit dem Patienten mehr reflektieren; über seine Wahninhalte und warum es und in welchen Situationen wieder zu Krisen kommt. Es kann hilfreich sein, die Bedeutung des Wahns zu rekonstruieren, sagt von Haebler.

Der Hamburger Psychotherapeut Thomas Bock hat in Erhebungen festgestellt, dass Psychosekranke, die in ihren Wahnvorstellungen einen subjektiven Sinn, eine biografische Bedeutung erkennen können, weniger Angst und weniger Minderwertigkeitsgefühle erleben als Patienten, die ihre Verrücktheit nur als Krankheit begreifen, die ihnen das Leben kaputt macht.

Auch die 35-jährige Patientin von Haeblers konnte später rekonstruieren, warum sie einen Liebeswahn entwickelte. Sie lebte noch bei den Eltern, wünschte sich aber eine Paarbeziehung. Der Verfolgungswahn zu einem angeblich gefährlichen Mann war nach dieser Lesart eine Art Ausweg aus dem Dilemma, die Eltern zu verlieren, die für ihr Überleben notwendig scheinen, wenn sie eine neue Beziehung eingehe. Sie stand also zwischen der scheinbar überlebensnotwendigen Bindung an ihre Eltern und dem ebenso lebensnotwendigen Wunsch nach Ablösung und Partnerschaft.

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