Zwei Jahre Räumung Oranienplatz: Die unsichtbaren Flüchtlinge

Die meisten Flüchtlinge, die einst den Platz besetzt hatten, kämpfen immer noch um legalen Aufenthalt – und nicht wenige verzweifeln daran.

Oranienplatz mit Zelten der Flüchtlinge aus der Vogelperspektive

Oranienplatz, Symbol des Flüchtlingsprotests, im Januar 2014: Drei Monate später wurde der Platz geräumt Foto: dpa

Frühlingssonne bringt auf dem Friedhof am Südstern erste grüne Triebe und Knospen zum Leuchten, eine Besucherin genießt auf einer Bank die wärmenden Strahlen. Totenstille herrscht aber nicht: Aus einem Bungalow neben den alten Familiengruften am Rand der Gräberfelder dringen Männerstimmen. Im Chor konjugieren sie deutsche Verben. Klingt schon ganz gut.

Die hier auf dem Luisenstädtischen Friedhof Deutsch lernen und auch wohnen, sind Übriggebliebene. Bis vor zwei Jahren gehörten sie zu den Flüchtlingen, die den Oranienplatz besetzt hatten. Die BewohnerInnen des Protestcamps dort hatten politische Forderungen: Aufhebung der Residenzpflicht und des Arbeitsverbots für Flüchtlinge, Aussetzung von Abschiebungen und Änderung europäischer Asylregeln wie die der so genannten sicheren Drittländer und Herkunftsstaaten.

Vor zwei Jahren schien es, als hätten sie Erfolg: In einer schriftlichen Einigung, die die Parkbesetzer mit Dilek Kolat (SPD), Senatorin für Arbeit und Integration, ausgehandelt hatten, versprach ihnen Kolat als Stellvertreterin des Senats nicht nur, „ihre politischen Forderungen in die Gremien im Land Berlin, auf die Bundesebene und nach Europa zu tragen“ und sie „im Rahmen ihrer politischen Verantwortlichkeit“ zu unterstützen. Das Einigungspapier sicherte den überwiegend aus afrikanischen Ländern kommenden Flüchtlingen auch zu, ihre individuellen Fälle „im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten“ neu zu prüfen, sowie sie bei der Entwicklung beruflicher Perspektiven zu begleiten und zu unterstützen. Aufgrund dessen beendeten die Flüchtlinge am 8. April 2014 die Platzbesetzung.

„Alle Versprechen gebrochen“

Zwei Jahre später fasst die Rechtsanwältin Berenice Böhlo, die viele der O-Platz-Flüchtlinge juristisch betreut, die Lage so zusammen: „Es ist dramatisch.“ Die Menschen würden „illegalisiert“, sie würden „zwar nicht abgeschoben, aber aus jeglichem Sozialsystem fliegen“: „Das Problem ist einfach von der sichtbaren auf die unsichtbare Ebene verschoben worden.“ Auch Oranienplatz-Aktivist Adam Bahar, der damals bei den Verhandlungen mit Kolat dabei war, die Einigung aber nicht unterschrieben hat, sagt heute: „Der Senat hat alle seine Versprechen gebrochen, er hat die Leute damals nur dazu bringen wollen, den Oranienplatz zu räumen.“

Was die Einigung von damals den Flüchtlingen tatsächlich gebracht hat, lässt sich an der Antwort der Senatsinnenverwaltung auf eine Anfrage der taz von Anfang April ablesen. Die lautet etwas gekürzt: „Wie bereits am 6. Februar 2015 Ihrer Kollegin mitgeteilt: Alle 576 Verfahren sind abgeschlossen. Es wurden drei Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Zudem gibt es eine vorübergehende Duldung aus medizinischen Gründen von circa einem Dutzend Personen.“

Wie viele von den 576 Flüchtlingen, für die die Einigung mit dem Senat gelten sollte, noch in der Stadt sind, weiß niemand. Und den Senat interessiert es offenbar auch nicht. So kann die Senatsverwaltung für Arbeit, die den Oranienplatz-Leuten im Einigungspapier „Unterstützung bei der Entwicklung beruflicher Perspektiven“ versprochen hatte, damit sie darüber womöglich eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, nicht einmal sagen, wie viele aus dieser Gruppe an Berufsfördermaßnahmen wie dem für Flüchtlinge gegründeten Integrationsprojekt Arrivo teilnehmen.

Aus den Augen, aus dem Sinn? Die Männer, die Deutsch auf dem Friedhof lernen, gehören zu rund 130 ehemaligen O-Platz-BesetzerInnen, die seit gut eineinhalb Jahren in der Obhut der Kirche leben. Verschiedene evangelische Kirchengemeinden kümmern sich um Gruppen von bis zu 40 Personen, die in Kirchenräumen schlafen und mit Taschengeld und Fahrkarten versorgt werden. Ehrenamtliche betreuen die Geflüchteten. Aber was sind deren Perspektiven?

Saidu, 23 Jahre alt, schiebt das schwarze Basecap über die Locken und lächelt. „Ich bin trotz allem Optimist!“ sagt der junge Mann, der vor fünf Jahren aus Libyen über Italien nach Berlin kam und heute Bürgerdeputierter in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg ist. Sieben Praktika hat er über Arrivo gemacht, erzählt er in passablem Deutsch, am liebsten würde er Erzieher werden, wenn das nicht geht, Tischler. Allerdings sei es sehr schwierig, über Arrivo an Lehrstellen zu kommen – zumal nun immer mehr Flüchtlinge kämen. „Aber die Ausländerbehörde hat mir gesagt, wenn ich einen Ausbildungsplatz bekomme, kriege ich Papiere.“ Er kenne drei Oranienplatz-Leute, die das bislang geschafft haben – 3 von 576.

Zwischen allen Stühlen

Und so ist es kein Wunder, dass Optimisten wie Saidu inzwischen rar sind unter den Refugees. Viele denken eher wie Idi Hassan, der sagt: „Ich weiß keine Lösung mehr.“ Er habe immer hart gearbeitet, so der Mann aus Niger, und er sei ein gläubiger Mensch, „aber heute bereue ich, dass ich überhaupt auf der Welt bin“.

Wie viele Oranienplatzler hat Idi Hassan lange als gut verdienender Gastarbeiter in Libyen gelebt, bis er während des Nato-Krieges 2011 nach Europa fliehen musste. Wegen der Dublin III-Regelung dürfen er und seine Leidensgenossen nur in Italien arbeiten, wo sie europäischen Boden betraten, jedoch keine Überlebenschance haben. Nach Deutschland dürfen sie nur als „Touristen“ einreisen, und müssen theoretisch nach drei Monaten wieder gehen. Dieses perspektivlose Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen quäle ihn Tag und Nacht, sagt Idi Hassan. „Ich gehe mit Stress zu Bett und wache damit wieder auf.“

Jürgen Quandt kennt solche Geschichten zuhauf. Quandt, Pfarrer „im Ruhestand“, hat vor Jahrzehnten das Kirchenasyl mitbegründet. Heute sitzt ist er als Geschäftsführer beim Evangelischen Friedhofsverband im Verwaltungsgebäude des Luisenstädtischen Friedhofs, knapp 100 Meter von den Deutschlernern entfernt.

Würden die „richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen“ bestehen, würden die meisten der Männer „längst selbst Geld verdienen“, sagt er. Jetzt kämpften manche mit „der Frage, warum sie morgens aufstehen sollen“. Immerhin: Alle der in Kirchenobhut befindlichen Flüchtlinge besuchten Deutschkurse, die jüngeren Schulen, alle haben einen Schlafplatz. Und: Die Kirche verhandelt seit Ende vergangenen Jahres wieder mit der Senatsinnenverwaltung über die Zukunft der Männer. „Keiner von ihnen hat die Chance, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden“, sagt Quandt. Aber die Kirche versuche, ihnen Arbeits- oder Ausbildungsplätze zu vermitteln, damit sie darüber Aufenthaltstitel bekommen können.

Anderen Ex-O-Platzlern, die zur Beratung zu Taina Gärtner und Monique Messikh-Müller von der Flüchtlingsinitiative Lampedusa Berlin in den Nachbarschaftsverein Kotti e.V. kommen, geht es da schlechter. Der junge Mann, den Messikh-Müller gerade berät, hat zwar ein Jobangebot, aber keinen festen Wohnsitz. Ohne Meldeadresse gibt es aber keine Sozialversicherungsnummer, ohne die keine Krankenversicherung, ohne die keinen Arbeitsvertrag. „So geht das von morgens bis abends“, sagt Gärtner: In jedem Einzelfall seien immer neue Details zu klären, „um einen Schritt weiterzukommen“. Das gelingt so selten, dass Gärtner inzwischen von einer „Lex Henkel“ spricht: Sogar in Fällen, wo Männer eine Ausbildung hätten und es hochrangige Fürsprecher wie den IHK-Chef gebe, habe die Ausländerbehörde einen Aufenthalt verweigert. Gärtner: „Den Leuten vom Oranienplatz macht man es extra schwer.“

O-Platz-Liste gilt nicht mehr

Was bleibt: Die alte O-Platz-Liste mit Zusagen für die ganze Gruppe gilt nichts mehr, und seit die Kirche für neue Verhandlungen eine neue Liste beim Senat abgeben musste, kann sie auch keine weiteren Geflüchteten mehr in Obhut nehmen. Die Gruppe Lampedusa in Berlin schafft es heute nur unter Schwierigkeiten, für etwa 20 Männer private Unterkünfte und etwas Geld zu organisieren. Denn die einst große Hilfsbereitschaft käme heute eher anderen, etwa syrischen Flüchtlingen zu, so Gärtners Erfahrung.

Einen der von ihr Unterstützten hat das möglicherweise kürzlich das Leben gekostet: Der 46-jährige Nigerianer Yusuf A.F. wurde Ende Februar nahe dem RAW-Partygelände erstochen. Der Obdachlose habe dort einen Freund treffen wollen, bei dem er schlafen konnte, sagen seine Freunde. Derzeit sammelt Gärtner Geld, um eine Beerdigung zu bezahlen. Der Oranienplatz zeige „das ganze Versagen der deutschen und der europäischen Asylpolitik“, sagt Rechtsanwältin Böhlo: „Es gibt keinen rechtlichen Spielraum, weil es keinen politischen Willen gibt.“

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