Kolumne Wir retten die Welt: Grenzwerte? Bleib mal locker!

Über die gefakten Abgaswerte bei VW regen sich alle auf. Anderswo drücken wir bei Regelverstößen gern mal ein Auge zu. Warum nicht auch diesmal?

Abgase strömen aus einem Auspuff

Muss man doch nicht so eng sehen: Abgase strömen aus einem Auspuff. Foto: dpa

Wozu haben wir Freunde? Doch wohl dazu: dass sie uns immer mal wieder die Augen öffnen. Meinen Freund S. kenne ich seit über 30 Jahren. Wir haben zusammen das Abitur überlebt, die Welt bereist, Familien gegründet. S. hat was Vernünftiges gelernt und Physik studiert. Und sagte letztens zum VW-Skandal: „Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst. Die Ingenieure haben doch genau gemacht, was verlangt war: eine Software entwickelt, die das Auto auf dem Prüfstand optimierte.“

Das Argument erhellte mich wie eine gut funktionierende Bremsleuchte. Und mit dieser Logik kämpfen ja auch die Autobauer in ganz Europa gegen die Zumutung, völlig absurde Grenzwerte einzuhalten. Ob beim Stickoxid, wo die Wagen etwa das Siebenfache der EU-Norm ausstoßen oder beim Kohlendioxid, wo sie weit von den Klimazielen entfernt sind – die Autohersteller vertrauen darauf, sagt ihr Cheflobbyist und Ex-CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann, dass die EU-Kommission diese Werte auch bei neuen Testverfahren „fair umrechnet.“ Fair könnte heißen: Statt 80 Mikrogramm Stickoxid gern mal so 300 oder so. Und statt 95 Gramm CO2 gern so rund 100 oder so.

Und der Mann hat doch recht: Was soll denn diese Korinthenkackerei? Wir sind doch auch sonst nicht so regelfixiert. Eine rote Ampel, wenn die Straße frei ist? Pff. Ein paar E-coli-Bakterien in der Pferdelasagne? Einer geht noch! Und auch Matthias Wissmann ist total entspannt, wenn in seinem Trinkwasser ein paar Gramm Uran oder Urin zu viel sind. Da hängen ja auch Jobs bei den Wasserwerken dran!

Mal ehrlich: Unsere Devise heißt doch überall: „Was nicht passt, wird passend gemacht!“ Grenzwerte, die irgendwelche Wissenschaftler nach jahrelangen hochspezialisierten Debatten im Konsens festlegen, betrachten wir doch eher so als Anregungen, wie man sich zu verhalten hat. Welcher Security-Mann am Flughafen drückt nicht ein Auge zu, wenn man sein Rasiermesser im Handgepäck vergessen hat? Wer wird denn über ein paar lecke Container mit Atommüll ein Fass aufmachen? Regt sich irgendjemand darüber auf, wenn Politiker in Doktorarbeiten ein bisschen Copy and Paste ausprobieren? Na eben.

Ein paar E-coli-Bakterien in der Pferdelasagne? Einer geht noch!

Nein, nein, die Autobauer haben den Trend richtig erkannt. Es geht doch hier bei uns allgemein in Richtung hellenistisch-hedonistisches Laisser-faire. Als ob sich irgendjemand daran stoßen würde, wenn ein Euroland ein bisschen an seinen Schuldenstatistiken feilt. Ach, komm, sagen da gerade wir tiefenentspannten Deutschen, Schwamm drüber! Und ob wir jetzt jeden Tag eine oder zwei von den Herzpillen nehmen, was soll der Geiz? Hygiene im Operationssaal? Eine komplette Liste von Zusatzstoffen in den veganen Bio-Hefekeksen? Die regelmäßige TÜV-Wartung im Aufzug? Ah, alles Spaßbremsen!

Auch von ganz oben kommt die Order: Macht euch mal locker! „Deutsche Gründlichkeit ist super, aber jetzt ist deutsche Flexibilität gefragt“, hat kürzlich sogar unsere Bundeskanzlerin gesagt.

Sie meinte die Reaktion auf die Flüchtlinge – aber was bitte sind VW-Manager dieser Tage, wenn nicht politisch Verfolgte? Flexibilität ist da das Zauberwort, gerade wenn es die Physikerin Merkel sagt. Sie weiß, was sie tut. Aber jetzt lassen wir sie damit mal in Ruhe. Die Bundeskanzlerin entscheidet in der Flüchtlingspolitik derzeit ohnehin jeden Tag über Grenzwerte.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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