Postmodernes Krimi-Game mit Videoclips: Verweis auf Verweis auf Verweis

Der interaktive Video-Thriller „Her Story“ liefert in seiner Schlichtheit einen komplexen Dreiklang aus Inhalt, Form und Spieltechnik.

Video-Still einer Frau, die an einem Tisch sitzt

Wer ist die Frau? Was ist das für ein Raum? Ist ein Mord geschehen? Foto: ap

Der Raum ist karg, die Frau im Vordergrund wirkt angespannt. Ihre dunklen Haare liegen über der rechten Schulter. Die Augen blitzen ein wenig. Sie fummelt an einem Kaffeebecher rum. Rechts unten in der Ecke des Bildschirms prangt ein Datum. Juni 1994. Die Videosequenz ist nur ein paar Sekunden lang. Ein Polizeiverhör? Hier liegt etwas ziemlich im Argen. Jemand wurde umgebracht, so scheint es. Mehr weiß man zu Beginn von „Her Story“ nicht.

Es wird auch kein kinoähnliches Grafikgewitter folgen. Das Setting des Ende Juni alleinig auf Englisch erschienenen Spiels, das der britische Entwickler Sam Barlow über die unabhängige Plattform „Indie-Fund“ finanziert hat, ist minimalistisch. Die SpielerIn gibt einer Datenbank Stichworte ein, die wiederum Videoclips liefern. Diese entstammen einer fiktiven Verhör- oder Befragungsserie, die aus sieben Teilen besteht. Wer fragt oder was erfragt wird, erfährt man nicht.

Eine Readme-Datei auf dem Desktop dahinter, der arg an prähistorische Windows-Versionen erinnert, erklärt noch rudimentär die Funktionen der Suchmaske. Jeder Schnipsel liefert neue Begriffe, die alleinig den Antworten der Verdächtigen entstammen. So heißt der Typ, der vermisst wird, „Simon“. Die Suche nach seinem Namen liefert ein neues Paket Video-Antworten. Via Klick auf ein weiteres Icon im Hintergrund ist noch eine kastenartige Übersicht verfügbar, welche Clips man bereits gesehen hat (grün eingefärbt) und welche noch fehlen (braun).

Das Spielprinzip ist simpel: Verweis folgt auf Verweis. Referenz auf Referenz. Stück für Stück soll so die Story hinter den Filmchen freigelegt werden. Üblicherweise würde nun ein kleiner Abriss folgen, was passiert ist und warum. Logisch wäre daher wohl folgender genereller Rahmen: Es ist ein Mord geschehen und die befragte Frau ist dringend tatverdächtig. Unser Job ist es, sie anhand der vorhandenen, mehr und mehr gefundenen Sequenzen zu entlarven.

Aber „Her Story“ liefert keinen linearen Verlauf. Es gibt keinen Anfang – wir starten lediglich mit dem Suchwort „Murder“ – und kein Ende. Es gibt keinen echten Abspann, der den vermeintlichen Plot mustergültig auflöst. Keine klickenden Handschellen, keine Schießerei, keine HeldIn. Die Rolle, die wir als SpielerIn einnehmen, ist indifferent. Wir werden zu keiner Figur, die mit fortschreitender Handlung munter ausstaffiert wird. Wir entwickeln uns nicht, wir beobachten. Wir kombinieren Videoclips.

Googeln als Reflex

Gleich unter dem ersten Stichwort „Murder“ findet sich eine programmatische Passage des Verhörs. Die Agenda des Spiels selbst spiegelt sich in einer unscheinbaren Antwort der Verdächtigen: „Sie haben keine Mordwaffe. Sie haben nichts. Und all die Geschichten, die wir einander erzählen, sind genau das – Geschichten.“ Wir werden im Verlauf des Spiels eine Kriminalgeschichte neu arrangieren, indem wir versuchen, sie formell wieder zusammenzusetzen. Wir werden zum Erzähler.

Formell folgt dabei „Her Story“ den vom deutschen Schriftsteller Klaus Modick Ende der 1980er Jahre definierten Gesetzmäßigkeiten des postmodernen Romans. Ein vom Spieler aus alten Video-Puzzleteilen selbst erschaffener, interaktiver Thriller passt beispielhaft zu diesem Konzept.

Modick schreibt in seinem Aufsatz „Steine und Bau. Überlegungen zum Roman der Postmoderne“ treffend: „Das Erzählen in Handlung ist das Kompositionsprinzip dieses Romantyps, denn erzählte Handlung und Kombinatorik nimmt den Leser an die Hand bei seinen Reisen durch wiedererkannte Bruchstücke des Gewesenen – das Erzählen ist Klebstoff für Zitat, Parodie und Collage; es ist auch das Medium, in dem die bekannten, vorgefundenen Teile um- und eingeschmolzen werden zu neuen Einheiten.“

Vor diesem Hintergrund liefert „Her Story“ in seiner vermeintlichen Schlichtheit einen komplexen Dreiklang aus Inhalt (Kriminalgeschichte) und Form (interaktiver, postmoderner Roman), die wiederum mustergültig in der Spieltechnik aufgehen. Die Technik, derer wir uns bedienen, ist eine alltägliche: Wir googlen – mit begrenztem Material, auf einer alten Datenbank. Das Spiel bedient damit zwingend einen Reflex, welcher längst zum führenden und universellen digitalen Kulturmechanismus ausgewachsen ist.

Die Idee: Ein neues digitales Spiel und mal ältere, mal neuere Philosophie/(politische) Theorie kombinieren.

Das Spiel: „Her Story“ ist im Juni 2015 erschienen. Erhältlich ist es für Windows, Mac und iOS.

Die Literatur: Modick, Klaus: Steine und Bau. Überlegungen zum Roman der Postmoderne. Bad Münstereifel, 1993.

Hang zum Voyeurismus

Die Währung, mit der am wirksamsten operiert wird, ist zumeist das bewegte Bild. Video-Portale bedienen nicht nur die Sehnsucht nach einem Zugriff jederzeit, sondern triggern munter unseren latenten Hang zum Voyeurismus. Auch diesen Nebeneffekt stellt „Her Story“ als Symptom der Interaktion nüchtern und wertneutral aus.

Im Fall von „Her Story“ beschreibt Entwickler Barlow jenen digitalen Reflex aber vorrangig als spielerischen, ästhetischen und kommunikativen Akt: „Es ist ein besonderer Weg, mit einer Erzählung in Berührung zu kommen, wie ein Bildhauer blickt man auf die Geschichte – dies kann nur interaktiv geschehen.“

An dieser Stelle knüpft auch der postmoderne Roman an. Klaus Modick klassifiziert ihn wie folgt: „[…] er bündelt das Zersplitterte, zitiert das, was zu verschwinden droht, und bewahrt es so. Er verzichtet auf letzte Wahrheiten, aber er lehrt uns zu sehen, ‚welches die Geheimnisse sind‘.“

Die Ebene des Beobachtens und des Erzählens erfährt eine besondere Fortsetzung im Netz. Mittlerweile existieren nicht nur zahlreiche Zusammenschnitte einzelner SpielerInnen, wie die Geschichte um Mord und Hauptverdächtige, die von der britischen Musikerin Viva Seifert verkörpert wird, aufzulösen sei („walkthroughs“), sondern ebenso viele Interpretationsansätze. Stets ergänzt um den Hinweis, dass die Story in den kommentierten Clips vorweggenommen wird – „Vorsicht, Spoiler“. Geheimnis folgt also auf Geheimnis, Verweis folgt auf Verweis, Referenz auf Referenz. Die Werkzeuge der plaudernden Spieler dabei, sind die gleichen, die das Spiel dominieren. Eine ziemlich überzeugende Beweiskette.

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