Essayist über Lebensentwürfe von Frauen: „Dein Eigenes musst du verteidigen“

Die Mutter des Autors Stephan Wackwitz wollte Künstlerin werden und ist Hausfrau geworden. Darüber hat er nun ein Buch geschrieben.

Das Eigene muss man verteidigen: eine Mode-Illustration von Margot Wackwitz Illustration: Archiv/Stephan Wackwitz

taz: Herr Wackwitz, zwei Ihrer Bücher kreisten um die Gewordenheit Ihres Großvaters und Ihres Vaters – die Frage lag jedoch immer nah: Wann schreiben Sie über Ihre Mutter. Jetzt ist es veröffentlicht: „Die Bilder meiner Mutter“ hat die Geschichte zum Titel. Warum erst jetzt?

Stephan Wackwitz: Ich glaube, das ist so ein Generationending – das meiner und das der vorigen. Wir haben uns an den beiden großen totalitären Bewegungen abgearbeitet, den Nazis und den Kommunisten. Ich in den Büchern „Ein unsichtbares Land“ und „Neue Menschen“ …

… von denen sich das eine mit Ihrem Großvater, das andere mit dem Lebensweg Ihres Vaters auseinandersetzt.

Ja, der eine Nazi, der andere Hitlerjunge. Ich hatte jedoch immer mehr das Gefühl, dass wir, dass meine Generation sich viel zu wenig um das gekümmert hat, was man Demokratietheorie nennen kann.

Das klingt ziemlich theoretisch, groß.

Na ja, machen wir‘s eine Nummer kleiner. Früher kam mir nicht dringend genug in den Blick, wer ein Vorbild demokratischen Lebens sein kann. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fiel mir auf, dass es soziale Bewegungen gab, die im 20. Jahrhundert quasi unter dem Radar der großen Debatten wirkten und nicht als politisch einflussreich wahrgenommen wurden.

Von welchen sprechen Sie?

Das war einerseits die Schwulenbewegung in den „Neuen Menschen“, die auf meinen Vater großen Einfluss hatte. Dann eben die zeitgenössische, moderne Kunst – und die Frauenkultur.

Stephan Wackwitz wurde 1952 in Stuttgart geboren. Er lebt in Tiflis, Georgien, wo er das Goethe-Institut leitet. Er schreibt auch für die taz und ist der Autor von inzwischen neun Büchern. Das aktuelle Buch „Die Bilder meiner Mutter“ ist soeben im Fischer-Verlag erschienen, hat 240 Seiten, kostet 19,99 Euro.

Dass etwa die soldatisch geprägte Männerkultur sich eher auf Heilbringendes, auf Eschatologisches verlegt hat – und das nahe, praktische Leben abtat?

Ja. Männerkultur setzt darauf, dass Demokratisches ein Zustand ist, den man irgendwann erreicht. Das war‘s dann. Das kann man dann nur noch verwalten. Aber Demokratie funktioniert so nicht. Sondern sie ist ein persönliches Experiment.

Ein lebensweltliches Beispiel?

In meinem neuen Buch habe ich die Echos von philosophischen Befreiungsbewegungen im Leben einer Künstlerin – keiner bedeutenden, aber einer Künstlerin – verfolgt. Nämlich im Leben meiner Mutter. Es waren vor allem amerikanische Philosophen, die das praktische Leben reflektierten. Die amerikanischen Denker versuchten, Demokratie, das Zusammenleben von Menschen in Freiheit, als ewigen Prozess zu umreißen. Nicht als Ziel, das man erreichen kann, um den Prozess für beendet zu erklären. Als dauerndes Experiment.

Sie schildern am Beispiel Ihrer Mutter, wie sie nach dem 8. Mai 1945 die Freiheit nutzen wollte. Was ist passiert, dass sie wie auch die meisten Frauen in der Bundesrepublik die eigenen Wege ins Dasein unter ihren Männern münden ließen.

Mein Bild dafür ist: Nach dem Nationalsozialismus ging eine Tür auf. In die Freiheit. Dann ging sie wieder zu.

Und unter NS-Lebensverhältnissen?

Waren noch Reste der Weimarer Zeiten untergründig eine Zeit lang spürbar und wurden gegen das Regime gelebt. Wenn man die Autobiografie von Helmut Newton liest, ist besonders eindrucksvoll, dass unter der Naziherrschaft sehr viele Elemente der Goldenen Zwanziger noch da waren.

Als flamboyante Stile?

Die gab es jedenfalls noch. Meine Mutter hat immer mit großer Befriedigung erzählt, dass sie in den Dreißigern in Berlin, wohin sie aus Wüttemberg als 16-Jährige ging, um die Kunstschule zu besuchen, auf der Straße angehalten wurde. Ein Mann giftete sie an, sie sei zu stark geschminkt: Wenn euch der Bismarck sehen würde … Meine Mutter erzählte immer, sie habe keck gesagt, dass der Bismarck vielleicht lieber geschminkte Mädchen gesehen hätte als einen Schrumpfgermanen. Ich weiß nicht, ob es sich wirklich so zugetragen hat – oder ob sie es nur gern gesagt hätte. Aber das war ihr Berlin, das war ihr inneres Empfinden.

Die Zumutungen nationalsozialistischer Stile waren ja mit dem 8. Mai passé. Was lief nach 1945 in der Bundesrepublik schief, dass die Unterordnung der Frauen unter ihre Männer nicht beendet war.

Nach dem Krieg war sie verkrüppelt, schwer kriegsbeschädigt durch einen Tieffliegerangriff. Sie ging dann noch zwei Semester an die Kunstakademie in Ellingen. Sie hatte schon damals, viele Frauen haben sich auf diese Art von innerer Sammlung verlegt, Zitate notiert – Sprüche von nichttotalitären Autoren, Emerson oder St. Exupéry. In den fünfziger Jahren haben gerade Frauen versucht, die Leichtigkeit der zwanziger Jahre zu rekonstruieren. Und sie arbeitete als Künstlerin. Und sie war finanziell erfolgreich.

Begann der Prozess der Einhegung der Ansprüche von Frauen in Ehen, in eine Position unter dem Mann gleich nach dem Krieg?

Nein, das hat länger gedauert. Die fünfziger Jahren waren so vernagelt nicht, jedenfalls nicht für meine Mutter wie die frühen Sechziger. In den fünfziger Jahren waren Frauen ja noch in Druckpositionen, sie wurden außerhalb der Familien gebraucht, sie waren teilweise noch berufstätig. Dieses Zurück-an-den-Herd kam erst ein bisschen später, in meiner Familiengeschichte jedenfalls.

Woran lag es, dass Frauen sich das gefallen ließen?

An der traditionellen Vorstellung, dass eine Frau nicht arbeiten sollte. Dass eigene Lebensentwürfe eigentlich nicht erlaubt sind. Dass sie sich ihrem Mann unterordnen sollte. Und dass die Verfolgung eigener Lebensvorstellungen für eine Frau eine Art Hybris ist, sobald die Kinder da ist. Und das hat niemandem gutgetan.

Sieht das Ihr Vater auch so?

Der sagt heute, dass das falsch war. Aber darüber dachte man damals nicht nach.

Das klingt wie ein Verhängnis.

Sie hat es so erlebt, ja. Denn niemand lebte so, wie es besser gewesen wäre. Es gab eben keine Vorbilder. Für eine Demokratie sind Vorbilder unglaublich wichtig. Wenn jemand anders als die anderen lebt, wird es wertvoll. In der Bundesrepublik gab es ja Gustav Heinemann, der anders war und lebte. Oder Willy Brandt. Als er von „Mehr Demokratie wagen“ sprach, war das ja kein so toller Gedanke, dass man erstaunt sein müsste, doch er verkörperte diesen Satz als Person und Vorbild. 1969 mit der sozialliberalen Koalition wurde eine Regierung gewählt, die die Adenauer-Jahre abschütteln sollte.

Sie bringen ein Lob des Konstruktivismus, wie Sie es nennen, aus: nicht mehr abhängig sein müssen von den Lebensbildern anderer, sondern sein eigenes Ding machen.

Ja – insofern, als der Rahmen des Demokratischen ja da war. Er musste nur ausgefüllt werden. Aber nach 1945 – da haben sie, auch wenn sie schon die Freiheiten der Weimarer Republik noch kannten, ihrem eigenen Mut nicht mehr getraut.

Weshalb nicht?

Das lag bestimmt auch am wirtschaftlichen Erfolg. Meine Eltern waren arm. Mein Vater hatte keinen Abschluss, meine Mutter diese Kriegsverletzung. Und wenn man dann in Lohn und Brot kommt, sich ein Auto leisten kann, eine Wohnung sich einrichtet, dann macht das die eigenen Ansprüche klein. Plötzlich war Geld da. Und das macht die Menschen konservativ. Die dachten, na, läuft‘s halt. Es gibt so ein Märchenmotiv: Der Berg geht auf, nachdem man eine unscheinbare Blume gepflückt hat. Aber dann wirft man sie achtlos weg – und der Berg schließt sich wieder.

Sie schildern beeindruckend, wie sehr Ihre Mutter im Leben Ihrer Familie zur Furie wurde.

Ja, sie war sehr schlecht gelaunt, sehr oft. So habe ich das empfunden: Frauen in jenen Jahren hatten wahnsinnig schlechte Laune. Das brach erst Ende der Sechziger auf, mit einer anderen Kultur, etwa mit dem Film „Zur Sache, Schätzchen“, mit der deutschen Nouvelle Vague – das war die fröhliche Seite der Achtundsechziger, das war toll. Ich hab an einem Weihnachtsfest von den Beatles „Why Don’t We Do It In The Road“ im Radio gehört, das war das schönste Weihnachtsgeschenk, das mir damals zuteil wurde.

Das Tauwetter begann – und Ihre Mutter wurde gar zur Hippiebraut: eine berührende Passage.

In der Tat. Der Künstlerstil setzte sich durch. Sie trug Kittel, Broschen, weite Hemden, eine Gertrude-Stein-Frisur. Das fand ich prima, dass meine Eltern weniger spießig wurden. Mein Vater ließ sich einen Vollbart stehen. Es war einfach etwas anderes da, man traute sich. Die Filme von Ingmar Bergman haben in meiner Familie eine große Rolle gespielt. Sie haben „Das Schweigen“ angeguckt …

… und darüber gesprochen?

Na, eher getuschelt. Später waren es „Szenen einer Ehe“ in den Siebzigern.

Ihre Schwester musste freilich leiden.

Ja, die hat’s nicht einfach gehabt. Der Neid meiner Mutter auf das eigene nicht gelebte Leben wurde an ihr ausgetragen.

Welche Schlüsse haben Sie aus dem Leben Ihrer Eltern für Ihr eigenes gezogen?

Es anders machen zu wollen. Ich habe nie in einer WG gelebt, aber diese alternativen Ansätze des Zusammenlebens haben mich immer stark fasziniert. Überhaupt, dass Bewegungen wie die der Schwulen zeigten, dass es auch anders geht.

Und sie leben selbst nicht in einer Ehe wie Ihre Eltern.

Nein. Das ist mir nicht gelungen, obwohl ich es versucht habe. Leider.

Was würden Sie Ihrer Mutter heute sagen?

Etwa dies: Du hättest nie aufhören dürfen, deinen Begabungen zu folgen, das war dein Lebensfehler. Das ist so wertvoll, das muss man verteidigen. Dein Eigenes musst du mit Klauen und Zähnen verteidigen. Das abzugeben, das ist der größte Fehler.

Das soll als Plädoyer für Eigensinn gelesen werden?

Als Idee vom Vertrauen in die Zukunft. Von der Vorstellung, dass so, wie man ist, man sich durchsetzen kann. Mit Richard Rorty gesagt: Wenn du auf deinen Idiosynkrasien bestehst, hast du eine Chance auf ein gutes Leben. Diese muss man nutzen: Das ist die subjektive Essenz von Demokratie.

Haben es Ihre Eltern alles in allem gut gemacht?

Insofern, als sie immer zusammengehalten haben, auch während der Krankheit meiner Mutter. Sie haben einander sehr geliebt und waren da füreinander. Sie haben trotzdem nicht genug auf sich selbst gehört. Aber damit waren sie nicht allein.

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