Griechenland am Tag des Referendums: „Wir wollen frei sein“

Die griechische Bevölkerung strömt seit dem Morgen in die Wahllokale. Eine Prognose wagt niemand, auf Veränderung hoffen alle.

Am Eingang einer Schule schauen mehrere Menschen auf Listen

Auf langen Listen suchen die Wahlberechtigten ihre Namen. Foto: dpa

ATHEN taz | Gestützt auf den Arm ihrer Tochter hievt sich Maria die Stufen zur Grundschule in der Skoufa Straße in einem schicken Athener Innenstadtbezirk herauf. „Referenden sind sehr selten in Griechenland, wir müssen wählen“, sagt Maria, deren graue Haare in einem beeindruckenden Knoten auf ihrem Kopf thronen. Vor 41 Jahren konnte sie zwischen Demokratie oder König wählen, heute geht es um Selbstbestimmung oder Abhängigkeit.

„Wir wählen heute für eine leichtere Last“, sagt sie und verrät nicht, ob sie Ja oder Nein wählt, ob sie der Empfehlung der Regierung Tsipras folgt und die in der vorletzten Woche verhandelten Zahlungsbedingungen der Geldgeber in der EU annimmt oder ablehnt. Im Armstuhl neben der Tür wartet Maria auf eine Helferin, die ihr den Wahlzettel an den Treppenabsatz bringt. „Das ist Luxus, weil ich über 70 bin“, sagt Maria auf Englisch. „Es ist ein großes Missverständnis, dass die Nein-Sager gegen Europa sind“, sagt sie. „Wir gehören zu Europa.“

Seit dem frühen Morgen strömen die Athener zu den Wahllokalen in den Schulen der griechischen Hauptstadt. Formal mag die Fragestellung nichtig sein, da die EU-Papiere nicht mehr gelten. Für die Griechen jedoch geht es darum zu zeigen, dass sie so nicht weiter machen können. Sie können nicht weiter an Renten oder Löhnen sparen, sie können nicht länger die hohen Steuern bezahlen, sie halten es nicht länger aus, unter dem Diktat der Geldgeber zu buckeln.

„Wir wollen frei sein“, sagt Jannis, der als Kofferträger in der Rezeption des Nobelhotels „Athens Plaza“ am zentralen Syntagma Platz arbeitet. „Ich sage mit Stolz Nein!“, fügt er hinzu, mit entschieden ausholender Geste. „Vielleicht sterben wir daran, aber wir sterben mit Stolz“, und schleudert nochmal einen unsichtbaren Ballast mit knapper Handbewegung gen Boden.

Ihm selbst gehe es noch gut, sein Lohn wurde nicht gekürzt, aber seine drei Söhne müssten mit über 30 Jahren mit jeweils 500 Euro im Monat auskommen. Das schafft niemand in Athen, wenn schon die Stromrechnung bei 150 Euro im Monat liegt, das Telefon 50 Euro kostet. Also leben Jannis Söhne aus „seinem Kühlschrank“. Diesmal führt Jannis die Hand mit zusammengelegten Fingerkuppen zum Mund.

Gespaltene Gesellschaft

„Es ist besser unabhängig zu sein“, findet auch Eva, die mit 51 Jahren nun selbst gefädelte Ketten und Armringe auf einem Pappkarton mit Tuch in einer Seitenstraße des Syntagma verkauft. Sie hat früher gekellnert, mal als Hausmädchen gearbeitet, gemacht, was so ging. Nun geht seit fünf Jahren gar nichts mehr. 250 Euro verdient sie mit den Ketten im Monat, wenn es gut geht auch mal 300 Euro. „Ein Ja wird sehr schwer für uns sein“, sagt sie. „Aber es ist besser den Euro zu verlassen und am Nullpunkt neu zu beginnen.“

Die griechische Gesellschaft ist gespalten. Nach den Spardiktaten klaffen die Ungleichheiten weiter auseinander als vor der Krise. Wer früher wenig verdiente, hat nun nichts, wer einst einen durchschnittlichen Lohn von 1200 Euro nach Hause trug, muss jetzt mit der Hälfte auskommen. Wer früher eine Rente von 1000 oder 1200 Euro hatte, darbt mit 700 Euro, viele Rentner haben nicht einmal das.

Weiter so geht es nicht, denn die Sparauflagen von EU und Internationalem Währungsfonds haben das wirtschaftliche Leben stranguliert. Aber deswegen den Euro verlassen? Aus der EU austreten wollen nur die Kommunisten und rechte Nationalisten. Die Mehrheit der Griechen will in der EU bleiben, denn sie fühlen sich Europa zugehörig. Die Sparzwangsvorgaben aus der EU empfinden dabei selbst die Griechen nicht zum Aushalten, denen es finanziell noch ausreichend gut geht. Doch der großen Mehrheit geht es eben nicht mehr gut.

Geschrumpfte Gewinne und Geld im Ausland

„Die Reichen trifft die Krise nicht“, sagt George Tsirtsikos, Ingenieur in einem führenden Unternehmen der Lebensmittelindustrie. „Sie haben ihr Geld im Ausland“. Die Unternehmen merken selbstverständlich den Kaufkraftverlust der Griechen, allein der Gewinn von Tsirtsikos Unternehmen ist innerhalb von sechs Jahren von sechs Millionen auf 100.000 Euro geschrumpft. Doch die Euro-Krise hat die Risse der Gesellschaft zu Kluften vertieft. Und daher stimmen die Griechen nicht nur über den Euro und die EU ab, sondern auch darüber, wie sie in Zukunft zusammenleben und wie sie ihre Gesellschaft gestalten wollen.

Eine Last wollen auch die Ja-Sager abwerfen, die in der Grundschule an der Skoufa-Straße einen Sticker mit „Nai“ ans Polo-Shirt oder das Leinenkleid geklebt haben, denn mit dem Ja hoffen sie, dass Tsipras seine Ankündigung wahr macht und am Montag zurücktritt. Auch in dem ökonomisch abgehängten Viertel der kleinen Händler, Angestellten und Rentner rund den Metaxurgio-Platz wählen die Athener „Nai – Ja“. „Es ist besser“ sagt eine junge Frau und steigt mit ihren Eltern in einen Mittelklassewagen.

Die Griechen dürfen nur dort abstimmen, wo sie gemeldet sind. Da sie meist ihr Leben lang am selben Ort gemeldet bleiben, kommen die Menschen aus den Vororten und sogar aus dem Ausland, um abstimmen zu können. An den Hauswänden neben den Eingängen der Schulen suchen sie auf landkartengroßen Listen nach ihrem Namen und der Nummer ihres Wahllokals. „Die Zeit ist reif für Ja“, sagt ein Mann, Mitte 30. Auf jeden Fall scheint die Zeit reif für einen Wechsel der Politik gegenüber Griechenland zu sein – völlig unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht.

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