ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #7: Blockwertung reloaded

Abstoßende Weltverbesserungsschnulzen. Belohnt wurde in der ersten ESC-Qualifikationsrunde hauptsächlich die Nachbarschaft zu Russland.

Tränen der Enttäuschung. Bild: Rolf Klatt

Kurz vor 23 Uhr, als das zehnte Land vorgelesen wurde, das aus den 16 Semifinalisten ins Grand Final des ESC am Samstag gehen würde, waren vier Finnen am Boden zerstört. Toni, der Schlagzeuger, der während der Tage von Wien unentwegt freundlich winkte, vergrub sich in den Armen einer Bekannten vom finnischen Fernsehen YLE und weinte viele Tränen der Enttäuschung.

Es war im Wortsinn ergreifend: Vier Punkmusiker, die in ihrer Heimat bei der Vorentscheidung die Herzen eroberten, die nicht wie Kalkül der Popindustrie aussahen und ebenso wenig wie ein Implantat der pädagogischen Inklusionsszenen, heulten entsetzlich ehrlich.

Nein, die 20 Jurys und Televoting-Communities erbarmten sich ihrer nicht, hatten kein Herz für das leidenschaftliche Schrummeln und Trommeln und Singen dieser Band, die sowieso gut ist, aber als Projekt von körperlich Behinderten auch keine Pop-Empathie weckte. Sie müssen jetzt nach Hause reisen, Kari, Samo, Pertti und Toni.

Das wäre noch verkraftbar – Demokraten müssen das! – wenn nicht zugleich eine Riege von zehn Liedern sich qualifiziert hätte, die überwiegend dieses eine ästhetische Kriterium eint: Sie erbrachten ein Ruder an Weltverbesserungsschnulzen, an Pseudofriedensliederei, dass es nur so abstoßend war. Nichts gegen die Künstler im Einzelnen, aber sowohl die Russin Polina und ihr verlogener Beitrag „Million Voices“ als auch die säuselnd pseudopolitischen Armenier oder die ungarische Ausgabe der deutschen Nicole („Ein bisschen Frieden“), die mit „Wars For Nothing“ auch eine Art kirchentagskompatible Wimmerei ablieferte. Die rumänische Band Voltaj kam gleichfalls durch – mit einer Sozialbotschaft, die die Delegation aus Bukarest absolut ernst genommen wissen wollte: Dass viele Kinder in Osteuropa elternlos aufwachsen müssen, weil ihre Eltern zur Arbeit in den Westen reisen müssen.

Osteuropäisch dominierte WählerInnen

Belohnt wurde in der ersten Qualifikationsrunde jedoch hauptsächlich die gefühlte oder konkrete Nachbarschaft zu Russland – es war ein Stück Wiederkehr des Ostblockvotings. Erfrischende oder ausgereifte Popmusik wie von vier dänischen Jungs oder der Niederländerin Trijntje Oosterhuis hatte keine Chance. Nur der Belgier Loїc Nottet kam durch. Sein absolut modernes Stück – eine Mixtur aus Elektro-Ausdruckstanz in gleißend weiß-schwarzem Bühnenbild – konnte die osteuropäisch dominierten WählerInnen und Juries auf seine Seite ziehen.

Er verzichtete auf Windmaschine, grotesken Pomp und lieferte sich nicht stereotypen Inszenierungen aus. Anders als die Griechin Maria Elena Kiriakou und die Albanerin Elhaida Dani, die beide mehr ihre Stimmkraft vorführten als eine mitreißende Melodie.

Mazedonien, Weißrussland und Moldau flogen auch raus – bei ihnen half auch die Nähe zu Moskau nicht. Die Idee des Pop ist auch Zuspitzung einer Idee, nicht nur sammelsurischer Mist.

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Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Kurator des taz lab und des taz Talk. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders der Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. Er ist auch noch HSV-, inzwischen besonders RB Leipzig-Fan. Und er ist verheiratet seit 2011 mit dem Historiker Rainer Nicolaysen aus Hamburg.

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