Eine Pädagogin berichtet: Die Schule braucht eine Revolution

Engagierte Lehrer stehen nicht selten vor dem Burn-Out. Erfahrungen eines sogenannten Teach-First-Fellows nach einem Jahr an einer Schule im sozialen Brennpunkt.

Schülerinnen in der Hauptschule Melanchthonstraße in Düsseldorf, die an der Bildungsinitiative Teach First Deutschland teilnimmt. Bild: dpa

"Seitdem durfte der König nicht mehr in der Hochzeitsnacht mit der Frau vom Bauern schlafen", sagt Janine*. "Und außerdem benutzten französische Soldaten den Kölner Dom als Pferdestall." Das sind Janines Erkenntnisse nach einem Stadtrundgang zur französischen Revolution. Noch vor einem Jahr hätte ich in so einer Situation stark an meiner Lehrbefähigung gezweifelt, handelte es sich doch um Geschichtsunterricht in einer neunten Klasse.

Heute erzeugt das in mir nur ein kleines Lächeln: Ich habe sie gepackt! Janine ruft mich am nächsten Tag in der Pause zu sich. Sie will dringend den Brief "aus dem Ballhaus an den Freund der Revolution" fertigschreiben.

Touch to teach them

Ich bin eine von knapp 100 Teach-First-Fellows. Wir gehen nach dem Studium zwei Jahre zur Unterstützung an Schulen in soziale Brennpunkte. Das Jahr an meiner Schule hat mir eines gezeigt: Nur wer SchülerInnen emotional berührt, der kann sie bewegen. Sonst lassen sie sich auf den Unterrichtsstoff gar nicht erst ein. Nur wer einen persönlichen Umgang mit ihnen findet, erreicht sie auch mit Inhalten. Themen und Methoden müssen die Kinder dort abholen, wo sie stehen. "Touch them to teach them!"

Viele beeindruckende Lehrer haben mir dies in den letzten Monaten vor Augen geführt. Schüler merken sofort, ob der Lehrer ihnen als Mensch gegenübertritt, der sie als gleichwertiges Gegenüber schätzt. Eine völlige Selbstverständlichkeit, denkt der Außenstehende. Dass dieser Respekt vor dem Schüler als Mensch eine größere Herausforderung darstellen kann, das sehe ich jeden Tag an meiner Schule. Wenn sich Schüler extrem respektlos verhalten, wenn sie Dinge, die mit viel Mühe erstellt wurden, wie den letzten Dreck behandeln, wenn sie andere Schüler quälen, dann fällt es als Lehrkraft schwer, zwischen dem Menschen und dem Verhalten zu unterscheiden.

Ein guter Pädagoge müsste es als Herausforderung ansehen, dieses Verhalten zu ahnden, den Schüler für Alternativen zu motivieren und ihn schließlich zu einem anderen Verhalten zu befähigen. Das geht jedoch nur dann, wenn gleichzeitig signalisiert wird: "Ich schätze dich als Mensch!" Eine große Aufgabe.

Mir hilft dabei die Einsicht, dass die meisten SchülerInnen dieses Verhalten nicht aus Böswilligkeit an den Tag legen, sondern oft nichts anderes zu Hause vorgelebt bekommen. Zwischen der Lebenswirklichkeit im Elternhaus und der in der Schule liegen häufig Welten.

Von den Kindern und Jugendlichen wird verlangt, dass sie diese Distanz mühelos überbrücken. Das gilt für das soziale Miteinander, aber genauso für die Themen und Inhalte. Die Kinder brennen darauf, einen Bezug zwischen ihrer Lebenswelt und dem Unterrichtsstoff zu erkennen. Diesen herzustellen ist jedoch nicht immer so einfach, wie Beispiele zeigen: Wenn der Papa gerade in einem der vielen Tobsuchtsanfälle die mühsam zusammengesparte Playstation zertrümmert hat, die Mama in betrunkenem Zustand das Zeugnis mit Wein beschmiert oder der Freund von Mama einem wieder viel näher gekommen ist, als es einem lieb war, ja dann reißt einen der Akkusativ nicht vom Hocker!

Da muss ich mir als Fellow schon richtig was einfallen lassen, um den Spagat zu schaffen. Teach First Deutschland lässt seinen Fellows die Freiheit, als Konsequenz solcher Erfahrungen ein Projekt namens "biografisches Theater" zu starten. Eine Schauspiel-AG, in der eigene Ängste, Träume und Wünsche ihren Platz haben und mit anderen geteilt werden können. Bei der Vorbereitung eines Theaterbesuchs mit einer neunten Klasse kommen interessante Details aus dem Leben meiner Schüler heraus. Etwa die Frage: "Kann man im Theater auch Popcorn essen?" Keine der SchülerInnen war je in einem Theater.

Mehr Personal

Die Fellows haben die Möglichkeit, einzelne SchülerInnen aus dem Unterricht herauszunehmen, um sich individuell mit ihren Lernschwierigkeiten auseinanderzusetzen. Während der Lehrer die Mitschüler weiter unterrichtet, schnellt die Lernkurve der bisher angeblich "Unbeschulbaren" im Einzelunterricht steil nach oben. Beschwingt durch kleine Erfolgserlebnisse und den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit einer Lehrperson zeigen sie plötzlich Motivation für den Unterrichtsstoff.

Wer jedoch denkt, dass durch diese Initialzündung der Funke für ein sich selbst nährendes Feuer des Lernens gelegt ist, der irrt. Zu komplex und prägend sind dafür die schwierigen Umstände, in denen die Kinder in sozialen Brennpunkten leben. Dies ist eine weitere wichtige Erfahrung, die ich im Laufe meines ersten Einsatzjahres als Fellow machen konnte: Nichts läuft einfach so weiter, wenn man es einmal in die richtige Richtung angestoßen hat. Alles ist harte Arbeit, ständige Investition und manchmal extrem ernüchternde Kleinschrittigkeit im Vorgehen. Das Prinzip der kleinen Schritte ist jedoch unerlässlich, will man die Kinder tatsächlich mitnehmen.

Die Klasse recherchiert zu einem selbst gewählten Thema. Anschließend erstellen die Schüler ein Lernplakat zur Präsentation der Ergebnisse. Schon das entpuppt sich als höchst anspruchsvolle Aufgabe für einen siebten Jahrgang im Deutschunterricht. Ich hatte mir kein Bild davon gemacht, auf welche methodische Unkenntnis und Unselbstständigkeit ich bei solch einer Aufgabe treffen würde.

Wie plant man eine mehrtägige Gruppenarbeit so, dass nicht jeden Tag aufs Neue Material fehlt? Wo kann man, abgesehen vom Internet, Literatur finden? Wie schafft man es, so zu arbeiten, dass nicht fünf Stunden lang die Überschrift verziert und dann in den letzten fünf Minuten mit der Übertragung des Textes begonnen wird?

Der eine gibt in Google die vollständige Frage samt Fragezeichen ein. Die andere Gruppe kopiert seitenlange Texte aus dem Netz, um sie ungesehen auf das Plakat kleben zu wollen. Wieder eine andere Gruppe findet kein Thema so spannend, dass sie sich länger als fünf Minuten damit beschäftigen wollte. Etwas selbst zu erarbeiten ist auch angesichts dessen, dass man zu Hause sieben Stunden pro Tag von TV oder Computer berieselt wird, ziemlich viel verlangt.

Intelligente Unterstützung

Eine derartige Aufgabe will extrem gut vorbereitet werden. Doch sieben Unterrichtsstunden und eine Lehrkraft reichen bei einer Klasse von 28 Kindern angesichts der Fülle an Schwierigkeiten bei solch einer Freiarbeit keinesfalls aus. Der Lehrplan drängt, die vorgegebene Anzahl von Klassenarbeiten muss geschrieben werden: Nahe liegt dann die Versuchung, einfach alles vorzugeben. Heute weiß ich und kann nachvollziehen, warum man in Brennpunktschulen massenhaft Arbeitsblätter mit Lückentexten findet. Die Gefahr besteht jedoch, dass die SchülerInnen so erst recht nicht lernen, selbstständig zu arbeiten und sich zu organisieren.

Glücklicherweise gibt es viele äußerst engagierte LehrerInnen, die das nicht hinnehmen wollen. Diese Spezies Lehrer findet man nach meiner Erfahrung ganz besonders häufig an Gesamtschulen, wozu meine Schule gehört. Sie wollen nicht aufgeben und glauben daran, dass auch diese Schüler langfristig zum selbstverantwortlichen Handeln geführt werden können.

Mit anzusehen, dass ein Großteil dieser Pädagogen häufig krank, von Tinnitus geplagt oder nicht selten kurz vorm Burn-out ist, gehört zu den traurigsten Erfahrungen meines ersten Einsatzjahrs. Natürlich ist der Staatshaushalt begrenzt und es ist müßig zu glauben, dass alle Politikbereiche mit mehr Finanzen ausgestattet werden könnten. Dennoch hat mich meine Zeit an der Schule sehr nachdenklich gemacht. Es ist eine Frage der Prioritätensetzung - über die es sich lohnt zu diskutieren.

Ist es gesellschaftlich sinnvoll, dass eine Schulpsychologin für 26 Schulen gleichzeitig zuständig ist? Noch dazu, wenn es sich teilweise um Schulen in sozialen Brennpunkten handelt? Darf es sein, dass Lehrer mit ihren Erziehungsaufgaben allein gelassen werden? Sie erhalten keinerlei zeitliche oder curriculare Entlastung für die zahllosen Klassenratstunden, Klassenkonferenzen, Schüler- und Elterngespräche, obwohl diese an Schulen wie der meinen das Übliche weit überschreiten.

Die völlige Überlastung der engagierten LehrerInnen führt dazu, dass viele neue Projekte, sei es das Leseprojekt, die dringend anstehende Verschönerung der Schule oder die eigentlich so wichtige Peerhospitation samt Feedback mit einem müden Lächeln abgewunken werden. Wann soll ich das noch tun? Ein Satz, den ich häufig höre.

Nicht alle Unterstützungsmaßnahmen für Schulen in herausforderndem Umfeld bedürfen jedoch großen finanziellen Engagements. Mit einem deutlich verbesserten Wissensmanagement wäre vielen Lehrkräften sehr geholfen. Wie so häufig lohnt der Blick ins Ausland. Auf der Homepage des australischen Bundesstaats Victoria findet man das Musterbeispiel einer bedienungsfreundlichen Ministeriumswebseite. Sie ermöglicht professionelle Weiterbildung und Wissensmanagement aller an Schulen Tätigen. Oft bedürfte es doch nur eines Kontakts zu Personen, die an genau demselben Thema oder Problem bereits gearbeitet und eine gute Lösung gefunden haben. Eine Wissensdatenbank mit Best-Practice-Beispielen, wie sie die "Knowledge Bank" in Victoria darstellt, könnte eine geeignete Maßnahme sein. Die Räder erfolgreichen Lernens müssen nicht immer neu erfunden werden!

Janine hat am Ende der Unterrichtsreihe eine 3 + erreicht. Ob diese Revolution auch in Deutschland stattgefunden hat, wollte sie in einer Stunde wissen.

Vielleicht sollten immer Schüler die Fragen stellen.

*Alle Schülernamen geändert

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