Günter Wallraff zum 70. Geburtstag: Träume eines Kämpfers

Sein Leben lang hat der Journalist Günter Wallraff Unrecht aufgedeckt: Ausbeutung, Rassismus, Erpressung bei „Bild“. Jetzt ist er 70.

Albträume zum Geburtstag: Günter Wallraff. Bild: dpa

Er träume von Flugzeugabstürzen und Entführungen. Er denke an den Tod. Er klingt, als sehne er sich nach einer Krankheit, damit Ruhe ist.

An einem Septemberabend, nach eineinhalb Stunden Gespräch, holt Günter Wallraff ein Notizbuch aus dem Wohnzimmer, blauer Einband. Nachts, wenn er aufwacht, dann schreibt er seine Träume auf, die guten und die schlechten, jetzt sitzt er in seiner Küche und liest vor. Drei schlechte, ein guter.

Im ersten Traum ist er bei einer Familie. Bei Menschen, die ihn mögen. Er fühlt sich geborgen. Dann dringen Verfolger ein. Sie wollen ihn foltern und lebendig begraben. Er will um Hilfe schreien, aber er bringt keinen Laut heraus. Die Familie schaut zu. Die Verfolger zwingen ihn in einen orangefarbenen Overall. „Wie sie Häftlinge in Guantánamo tragen“, hatte Günter Wallraff in der Nacht notiert.

Im zweiten Traum nimmt er an einer Beerdigung teil. Er weiß nicht, wer gestorben ist. Der Sarg wird über verschlungene Wege getragen und senkrecht in eine Felswand gestellt.

Im dritten Traum erlebt er eine Notlandung. Er bleibt unverletzt. Die Passagiere sind in der Gewalt von Geiselnehmern. Ihm gelingt die Flucht. Er trifft auf eine Gruppe von jungen Menschen, die sich flüsternd in einer Sprache unterhalten, die er nicht versteht. Als er sie anspricht, wenden sie sich ab. Sie sind mit den Geiselnehmern verbündet.

„Nur so scheiß Träume“, sagt Günter Wallraff.

Ein Lachen endet als Seufzer

Er klappt das Notizbuch zu. Am Nachmittag hatte er am Telefon überrascht geklungen. Sein Geburtstag am 1. Oktober, der Siebzigste? „Wenn ich den noch erlebe“, hatte Günter Wallraff gesagt und etwas hinterhergeschoben, was zunächst als Lachen begann, dann abstarb und als Seufzen endete.

Die Person: Günter Wallraff wird am 1. Oktober 1942 in Burscheid geboren. Als Schüler fängt er an zu schreiben. Heinrich Böll ermutigt ihn, seine Erfahrungen bei der Bundeswehr zu veröffentlichen.

Die frühen Werke: In den sechziger Jahren recherchiert Wallraff als Arbeiter in Großbetrieben, 1970 veröffentlicht er den Band „Industriereportagen“. 1977 schleicht sich Wallraff bei Bild ein, seine Recherchen erwecken großes Aufsehen. 1983 arbeitet er als Gastarbeiter Ali bei verschiedenen Unternehmen. Das Buch „Ganz unten“ wird zum Bestseller, es verändert den Blick auf die Situation der Gastarbeiter in Deutschland.

Köln, Thebäerstraße, hier wohnt er seit Jahrzehnten. Am Klingelschild schwingt sich sein Name, zweimal zwei Silben, knapp und prägnant wie seine Sprache. Es ist nicht leicht, ihn falsch zu verstehen, außer man legt es darauf an. Er macht kaum Schlenker, er klingt nach Arbeit, nach Schweiß; er hört sich noch immer an wie das Inhaltsverzeichnis eines seiner Bücher, „Industriereportagen“, erschienen im März 1970.

Am Fließband, Seite 7. Auf der Werft, Seite 29. Im Akkord, Seite 45. Im Stahlwerk, Seite 67.

Günter Wallraff könnte längst ein Denkmal sein. Er hat das Land verändert und den Journalismus in diesem Land. Wallraff, der Undercover-Rechercheur. Seit fünfzig Jahren schreibt er sich in die Bücherregale der Republik. Er enthüllt Ausbeutung, Rassismus, Feigheit, Unterdrückung. Nicht allen gefällt das, einige fühlen sich davon provoziert.

In den Siebzigern soll es vorgekommen sein, dass Passanten auf den Boden spuckten, wenn sie Günter Wallraff sahen. Die Bild-Zeitung klagte und hetzte gegen ihn und ließ sein Telefon abhören. Das ist heute anders, Deutschland ist lässiger geworden, das edle Zeit-Magazin setzt Günter Wallraff aufs Cover. Er könnte sich feiern lassen und vielleicht etwas ausruhen, wäre da nicht die Sache mit dem Mitarbeiter, der ihn fertig macht, und gäbe es nicht noch immer Menschen, die ihm die Anerkennung verwehren.

Dieses Jahr, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, sollte Günter Wallraff für sein Lebenswerk ausgezeichnet werden, bei einem renommierten Journalistenpreis. Es hätte Sekt gegeben und den Applaus der gesamten Branche. Doch im letzten Moment entschied man sich doch für einen anderen Kandidaten. So richtig schlimm fand das Günter Wallraff nicht. Er mag keine Empfänge, sagt er.

Er will sich nicht abheften lassen. In seiner Wohnung bewegt er sich, Treppen hoch, Treppen runter, als wolle er keine Zeit an den Alltag verlieren. Als sei man hinter ihm her.

Nicht Wallraff sucht die Missstände, sie suchen ihn

Es ist längst nicht mehr so, dass Günter Wallraff Missstände suchen muss. Die Missstände suchen ihn. Er ist nicht mehr nur Autor und Journalist, er ist so etwas wie eine Agentur: Die Menschen haben Sorgen, sie wenden sich an ihn, oft anonym. Und er überlegt, was man tun kann: Ein Anruf beim Chef? Eine Mediation? Die große Enthüllung?

Briefe in der Küche, Briefe im Wohnzimmer. Das Telefon klingelt, das Handy piepst. Zwischendurch sitzt Günter Wallraff erstarrt am Küchentisch. Er sieht dann aus wie seine eigene Wachsfigur.

Es gibt ein Prinzip im Leben von Günter Wallraff: Da sind die Sorgen der anderen. Und da sind seine Sorgen. Doch solange die Sorgen der anderen größer sind, muss er weitermachen.

An einem Morgen im Februar 2008 steigt Günter Wallraff, er ist zu diesem Zeitpunkt 65 Jahre alt, auf sein Rennrad und fährt durch einen Wald im Hunsrück, Rheinland-Pfalz. Im Ort Stromberg, 3.200 Einwohner, hält er an einer Fabrik, der Backfabrik Weinzheimer. Er hat einen Hinweis erhalten, einen Hilferuf, wie so oft.

Doch dieser Fall, diese unscheinbare Fabrik im Hunsrück, wird Günter Wallraff verfolgen. Die Sorgen der anderen sind bald seine eigenen.

Verkleiden um zu demaskieren

Im Verletzungsbuch der Fabrik notieren Mitarbeiter: „Haut aufgerissen“, „Platzwunde Kopf“, „Oberarm links beim Putzen verletzt“, „Schulter Haut aufgerissen“, „aufgeplatzte Wunde“, „Verbrennung rechter Arm“, „Schnittwunde“, „Verbrennung am linken Arm“, „linke Hand und Mittelfinger aufgerissen“, „Kopfwunde“. Ein Anwalt des Fabrikchefs wird später sagen, es habe sich bei den Verletzungen um „Petitessen“ gehandelt.

Günter Wallraff schleicht sich an diesem Februarmorgen ein, er schreibt eine Reportage, er dreht einen Film. Er tut das, was er seit fast einem halben Jahrhundert tut: Er tat es als Reporter bei Bild in Hannover, als Arbeiter in einer Werft in Hamburg, in einem Call-Center in Köln, bei Thyssen-Krupp, bei einer Versicherung. Er ist der Mann mit den Masken, ungeschminkt wirkt Günter Wallraff fast scheu.

Man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, sagt er.

Günter Wallraff hat einen Namen, doch Bernd Westerhorstmann, der Chef der Brötchenfabrik in Stromberg, hat Geld. Er engagiert einen prominenten Medienanwalt mit Gelfrisur, Ralf Höcker. Er beißt sich an Günter Wallraff fest.

Es folgt ein Strafprozess vor dem Amtsgericht Bad Kreuznach. Es folgt ein Zivilprozess vor dem Landgericht Köln, vier Jahre nach der Enthüllung, im Januar 2012. Und im Juli folgt der Verrat.

Wie Ausbeutung funktioniert

„A Punkt, F Punkt“, sagt Günter Wallraff, wenn er sich an jenen Mann erinnert, an den er sich nicht erinnern will, er will nicht mal seinen Namen in der Zeitung lesen: André Fahnemann, 34, bleiches Gesicht, oft trägt er einen leichten Schal um seinen Hals. Fast vier Jahre hatte er für Wallraff gearbeitet, er saß im Erdgeschoss von Wallraffs Haus in der Thebäerstraße, er beantwortete E-Mails und begleitete Wallraff zu Gerichtsterminen. Auch zu jenem Termin im Januar vor dem Landgericht Köln, einem braunen Hochhaus, zehn Autominuten von Wallraffs Wohnung entfernt.

Ralf Höcker, braun gebrannt, sehr reine Haut, geht in den Prozesspausen die Gänge entlang. Er hält ein Handy am Ohr. Günter Wallraff, randlose Brille, blaues Hemd, steht im Saal.

An diesem Freitag im Januar geht es um Formulierungen. Ralf Höcker setzt für seinen Mandanten, den Brötchenfabrikanten aus Stromberg, durch, dass Wallraff nicht mehr öffentlich äußern darf, „alle“ seine Kollegen in der Fabrik hätten Verbrennungen gehabt, sondern nur „fast alle“.

Günter Wallraff krempelt sein Hemd hoch, flucht und zeigt der Richterin eine Narbe. Der Medienanwalt mit Gelfrisur unterstellt Wallraff, er habe sich die Verletzung anschminken lassen. Er wirft ihm vor, Wallraff würde sein Buch nur in der Hand halten, um Werbung zu machen, auf den Zuschauerplätzen sitzen ehemalige Mitarbeiter Wallraffs aus der Brötchenfabrik.

Sie müssen kein Buch lesen, um zu wissen, wie Ausbeutung funktioniert.

Und Günter Wallraff, der Gehetzte, flucht ein weiteres Mal, weil er Besseres zu tun habe als das hier: neue Recherche, neue Missstände. Die Sorgen der anderen. Er steckt mitten in seiner Recherche als Bote beim Paketzusteller GLS.

Er muss Pakete tragen. Er muss Treppen hinaufrennen und hinunter. Die Geschichte heißt „Des Anderen Last“, ursprünglich ein Zitat aus der Bibel, Neues Testament, der Paulusbrief an die Galater. Den Film dazu zeigt RTL, irgendwann zwischen „Schwer verliebt“ und „Bauer sucht Frau“.

Wallraff im Privatfernsehen. Ist RTL denn besser als Bild? Wenn man Günter Wallraff diese Frage stellt, dann reagiert er ungeduldig, genervt und im nächsten Moment erschrocken.

Moral ist eine Zeitfrage und Günter Wallraff ein gehetzter Held.

In den Verhandlungspausen, Landgericht Köln, eilt André Fahnemann durch die Gänge und verteilt Dokumente, unauffällig ist er, still, er ist ein Zeuge im Gerechtigkeitskampf, noch ist er Wallraffs Helfer, kein Protagonist; der wird er erst noch werden. Und dann wird er Gerechtigkeit anders buchstabieren.

Am 30. Juli veröffentlicht der Spiegel einen Text, der sich auf Aussagen Fahnemanns stützt – mit Foto von ihm und vollem Namen. Er sei von Wallraff ausgenutzt worden, habe bügeln und einkaufen müssen, er habe für ihn bei Hugo Boss um kostenlose Reisetaschen und bei Montblanc um vergoldete Wecker gebettelt. Wallraff sei ein „absoluter Egomane“. Und ein Langschläfer.

André Fahnemann erlebt kurze Tage des Ruhms. Er ist jetzt der Mann, der behauptet, Deutschlands bekanntesten Enthüllungsjournalisten mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Auf seinem Blog zitiert er Rosa Luxemburg: „Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.“

Zwei Wochen später beschreibt der Spiegel, wie Fahnemann vom Anwalt des Brötchenfabrikanten, Ralf Höcker, zur Staatsanwaltschaft begleitet wird. Gemeinsam übergeben sie Dokumente. Fahnemann hat nun endgültig die Seiten gewechselt.

Am 6. September spricht das Amtsgericht Bad Kreuznach Bernd Westerhorstmann, den Brötchenfabrikanten aus Stromberg, vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung frei.

Fahnemann kommuniziert mit Wallraff nur noch über das Internet, für jeden lesbar. Auf seinem Blog schreibt er Ende August „eine Nachricht an Günter“. Der erste Satz klingt noch versöhnlich, der zweite wütend und der dritte wie eine Drohung: „Ich habe nicht vor dich zu ’zerstören‘, dann hätte ich ganz andere Dinge auf den Tisch gelegt (du weißt vielleicht was ich meine).“

Für eine Anfrage der sonntaz ist André Fahnemann nicht zu erreichen. Man würde ihn gerne persönlich fragen, was ihn so wütend macht und vor allem: wer. Ob es Wallraff war – oder jemand ganz anderes. Vielleicht würden die Antworten helfen, um Günter Wallraff zu verstehen. Vielleicht aber würden sie nur dazu beitragen, André Fahnemann zu verstehen.

„Er hat mich zeitweise vielleicht auch überhöht“, sagt Günter Wallraff.

Wenn er sich an Fahnemann erinnert, auch wenn er sich eigentlich nicht erinnern will, dann spricht er von einem Moment, einem „Schlüsselmoment“, wie er sagt. Sie saßen zusammen und diskutierten.

„Jeder Mensch ist käuflich“, habe Fahnemann gesagt.

Verabscheuenswürdig und skrupellos

Menschen, die sich diesen Satz zu eigen machten, seien verabscheuenswürdig und skrupellos, habe er, Günter Wallraff, geantwortet.

A Punkt, F Punkt. Was da passiert sei, sagt Wallraff, das schüttele er nicht so einfach ab.

Wallraffs Handy piepst. Er klappt das Display auf, seine Mundwinkel schnellen nach oben, er liest die Nachricht vor: „Günter, ich bin und bleibe dein Freund.“ Das Handy schnappt zu, klack. Günter Wallraff lehnt sich zurück. Er ist erleichtert, für wenige Sekunden. Die Nachricht ist von Richard Brox. Auch sein Name steht am Klingelschild des Hauses in der Thebäerstraße.

Brox war obdachlos, Wallraff lernte ihn bei einer Recherche kennen. Sie zogen zusammen durch die Kälte. Wallraff schrieb eine Reportage über Obdachlosigkeit. Er bot Brox an, kostenlos bei ihm zu wohnen. Brox zog ein, er bekam einen eigenen Schlüssel, er blieb einige Monate. Sie spielten Schach und diskutierten.

Fahnemann habe die Blauäugigkeit von Wallraff schamlos ausgenützt, sagt Brox. Zuerst habe er sich als „der Sekretär“ bezeichnen lassen. Dann habe er mehr gewollt. „Er tat so, als ob er der neue Wallraff sei“, sagt Brox. Fahnemann habe ihn damals aufgefordert, keine Rücksicht auf Wallraff zu nehmen. „Nimm, was du kannst“, habe Fahnemann gesagt. „Greif ab, was geht!“

Wallraff, sagt Brox, sei immer nett zu ihm gewesen. Manchmal sei er schroff am Telefon. Aber das sei normal, Wallraff stehe schließlich in der Öffentlichkeit.

Auch Freundlichkeit ist eine Zeitfrage.

Wäre das Leben von Günter Wallraff ein Jump-and-Run-Spiel, dann gäbe es dort Angreifer, die Verfolger und die Freunde. Es gebe die Offensive und die Defensive und neun Leben. In diesen Tagen wirkt Günter Wallraff, als müsse er sich verteidigen, als hätten die Angreifer den inneren Schutzring durchbrochen: Fahnemann ging über diese Treppen, er saß am Küchentisch. Er wollte Geld.

Ein Stockwerk höher musste zur gleichen Zeit ein junger Mann um sein Leben bangen, ein Rapper aus dem Iran, Shahin Najafi. Iranische Ajatollahs empfanden seine Lieder als Gotteslästerung, eine Webseite setzte ein Kopfgeld von 100.000 US-Dollar aus. Wallraff rief zur Solidarität mit Najafi auf, er beantwortete Presseanfragen für ihn, hielt ihn versteckt. Er versteckte ihn, wie er hier einst den Liedermacher Wolf Biermann versteckte, den die DDR gerade ausgebürgert hatte, oder den Schriftsteller Salman Rushdie; den einen jagten Bild-Reporter, den anderen wild gewordene Islamisten.

Salman Rushdie lebte viele Jahre im Untergrund, gerade hat er eine Biografie veröffentlicht. Die wild gewordenen Islamisten, sie haben ihn nicht kleingekriegt. Bis heute ist er mit Wallraff befreundet.

Wolf Biermann hat mit seinen Verfolgern von damals Frieden geschlossen. Im Mai gratulierte er dem Axel Springer Verlag zum 100. Geburtstag ihres Gründers: Es gebe nicht nur falsche Freunde, sondern auch falsche Feinde. Zur Geburtstagsgala in Berlin, schwarze Limousinen, roter Teppich, erschien Biermann mit seiner Frau. Vielleicht ist nicht jeder Mensch käuflich. Für den Axel Springer Verlag reicht Wolf Biermann, der Liedermacher. Zumindest für einen Abend.

Einen halben Marathon, einen ganzen Marathon

Als Fahnemann mit Wallraff brach, musste Najafi das Haus in der Thebäerstraße verlassen. Wallraff brachte ihn an einen neuen Ort. Er sei sich nicht mehr sicher gewesen, sagt Wallraff. Vielleicht hätte Fahnemann Najafi verraten, um 100.000 Dollar Kopfgeld zu kassieren. Vielleicht ist nicht jeder Mensch käuflich – es hätte ausgereicht, wenn André Fahnemann es ist. Für Najafi wäre das lebensgefährlich gewesen.

Es geht oft um Leben und Tod bei Günter Wallraff, nicht weniger.

Und darum, gestählt zu sein für den Kampf; er paddelt im Hochseekajak gegen den Wind, er sieht das Land als Silhouette; er läuft einen halben Marathon, einen ganzen Marathon; er tritt im Tischtennis an gegen Timo Boll, den besten Tischtennisspieler in diesem Land, und holt dabei sechs Punkte; und manchmal, wenn ihn eine Schulklasse besucht, dann klettert ihnen Günter Wallraff in seinem Garten etwas vor: Seht her, ich kann es noch!

Er muss es beweisen. Wallraff rennt. Und manchmal rennt er weg.

1992, zu seinem fünfzigsten Geburtstag, plante sein Verlag einen Empfang. Da sei er abgehauen, sagt Wallraff. Er fuhr nach Rostock und feierte mit den Opfern der Ausschreitungen in Lichtenhagen das Überleben. Er habe ihnen nicht gesagt, dass er Geburtstag hat. 2002, zu seinem sechzigsten Geburtstag, war Günter Wallraff in Afghanistan. Er eröffnete eine Mädchenschule. Und sein Siebzigster?

Er legt die Hände auf sein Gesicht, er sieht jetzt aus wie ein Arbeiter nach vier Wochen Spätschicht. „Ich habe mir nie vorstellen können, jemals so alt zu werden“, sagt Günter Wallraff. Er will nicht fotografiert werden in diesen Tagen, überhaupt nicht, es gebe doch genügend Bilder.

Vielleicht befürchtet er, man könne ihm Müdigkeit ansehen, das Alter oder gar die schlechten Träume aus seinem Buch: Flugzeugabstürze, Einbrüche, Entführungen. Auch Helden werden alt.

Manchmal, in letzter Zeit selten, hat Günter Wallraff einen guten Traum. Er breitet die Flügel aus, er steigt hoch und hebt ab. Er fliegt jetzt über Städte und Landschaften. Seht her, ruft er dann, ich habe die Schwerkraft überwunden!

Doch die Zuschauer im Traum tun so, als sei es das Selbstverständlichste, die Schwerkraft zu überwinden.

Das macht Günter Wallraff dann sauer.

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