Exinnenminister Baum über NSU: „Die V-Leute müssen an die Kette“

Jahrelang sei die Gefahr von Rechts ausgeblendet worden, sagt Ex-Innenminister Baum (FDP). Es müsse verhindert werden, dass mit Staatsgeld Neonazis finanziert werden.

Mehr Kontrolle im Umgang mit V-Leuten fordert Gerhart Baum. Bild: Pinnwand / photocase.com

taz: Herr Baum, vor einem Jahr erfuhren wir, dass es eine Mörderbande namens NSU gab. 13 Jahre Untergrund, 10 Tote – und der Staat lag im Tiefschlaf. Wie tief ist der Einschnitt?

Gerhart Baum: Das ist ein Trauma für das Land. Und für die Sicherheitsbehörden. Diese zehn Menschen könnten noch leben, wenn sie funktioniert hätten.

Warum wurde die Gefahr des Terrors von rechts übersehen?

Wir waren jahrelang, auch in meiner Zeit als Innenminister, herausgefordert durch die Gewalt der RAF. Darauf hat die Republik intensiv reagiert, in Teilen überreagiert. Die gleichzeitigen Morde, die von Rechtsextremen verübt wurden, wurden dagegen ausgeblendet. Jahrzehntelang galt: Der Feind steht links.

Was muss sich im Sicherheitsapparat ändern?

Es muss sich das Bewusstsein schärfen, dass der Rechtsextremismus eine wirkliche Gefahr ist. Und natürlich müssen auch die Strukturen überprüft werden, etwa die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsschutzbehörden.

Die Debatte wird ja grundsätzlicher geführt: Brauchen wir noch einen Verfassungsschutz?

Der FDP-Politiker war von 1978 bis 1982 Innenminister der sozialliberalen Koalition. Bis 1994 saß er im Bundestag. Regelmäßig legt Baum Verfassungsbeschwerde gegen weitreichende Sicherheitsgesetze ein. Vor Kurzem feierte er seinen 80. Geburtstag.

Der Verfassungsschutz ist jetzt in der Bringschuld: Er muss uns erklären, warum wir ihn brauchen. Ich bin der Meinung, wir brauchen ihn zur Abwehr einiger Gefahren dringend, etwa der neuen Form des islamistischen Terrorismus. Da liefert er wertvolle Hinweise, mit denen Anschläge verhindert werden können. Bei der Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen sollte er sich aber auf das Wesentliche konzentrieren: Den Bürgern zu sagen, welche Kräfte unsere Ordnung angreifen.

Können das die Bürger nicht selber erkennen?

Zum Teil schon. Die Linkspartei können wir politisch einordnen, dazu brauchen wir keinen Verfassungsschutz. Die Beobachtung dieser Partei und ihres Personals kann der Staat getrost einstellen. Aber es gibt auch gefährliche extremistische Gruppen, die nicht so ohne Weiteres durchdringbar sind.

Das NSU-Debakel hat zum Teil unglaubliche Zustände in den Länderbehörden offenbart. Als das NSU-Trio in den Untergrund ging, war der Verfassungsschutz Thüringens eine Unsicherheitsbehörde.

Das stimmt leider, ja.

Brauchen wir in Deutschland wirklich fast 40 Geheimdienste und Kriminalämter?

Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit, eindeutig. Aber ich bin skeptisch gegenüber denen, die jetzt alles zentralisieren wollen. Das bringt auch Gefahren mit sich. Wichtig ist, dass Informationen nicht irgendwo in Landesbehörden liegenbleiben, sondern ausgetauscht werden.

Warum braucht der Verfassungsschutz V-Leute, also vom Staat bezahlte Verräter?

Wir können in der Welt, in der wir leben, nicht auf Informationen verzichten, die man sich auf diese Weise beschafft. Entscheidend ist, dass es klare Regeln gibt, wie man V-Leute anwirbt und mit ihnen umgeht. Und vor allem, wie verhindert wird, dass mit Staatsgeld rechtsextreme Aktivitäten finanziert werden. Man muss die V-Leute an die Kette legen.

Es gibt den Vorschlag, ein geheimes Parlamentsgremium, die G 10-Kommission, soll den Einsatz von V-Leuten vorab genehmigen. Eine Art Spitzel-TÜV.

Meine Erfahrung mit diesem Gremium ist, dass die dortigen Kontrolleure weitgehend den Vorstellungen der Sicherheitsbehörden folgen. Und sie können auch kaum was anderes tun, denn sie haben keine Urteilsgrundlage außer dem, was ihnen die Dienste vorlegen. Das wird nicht funktionieren. Oder soll das Parlament etwa die V-Leute vorladen und sie inspizieren?

Geht Ihnen die Aufklärung des NSU-Debakels zügig genug?

Für die Opferangehörigen muss es unerträglich sein, wie lange die Aufklärung dauert. Der NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin arbeitet gut, die Abgeordneten geben sich große Mühe, aber sie kommen nur langsam voran. Doch wenn am Ende wirklich etwas herauskommt, was uns für die Zukunft hilft, ist Gründlichkeit wichtiger als Schnelligkeit.

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