Stadt im Wandel: Die Kunst der Deutung

Historische Fotografien sind en vogue. Doch Diethelm Knauf zeigt, wie man der allgegenwärtigen Nostalgiefalle gut informiert entkommen kann.

Alles vorbereitet für den "Führer": Blick auf die Bremer Bahnhofstraße am 1. Juli 1939. Bild: Heinrich Raschen

Diethelm Knauf ist der wohlmöglich beste Kenner der Bremer Geschichte – seit es Zelluloid gibt. Nicht zu vergessen dessen Vorgänger-Materialien. Knauf ist langjähriger Leiter des Landesfilmarchivs, doch auch mit stehenden Bildern kennt sich der Historiker bestens aus. Für den nun herausgekommenen Band „Bremen im Bild“ wählte er aus den über 300.000 Abbildungen im Bestand des Zentrums für Medien im Landesinstitut für Schule 165 Fotografien aus. Sie stammen aus den Jahren 1890 bis 1950.

Wie schon in früheren Bild-Editionen setzt Temmen dabei durchaus nicht nur auf bekannte Motive, auf repräsentative Großbauten und unmittelbar Wiedererkennbares. Sondern auch auf schlichte Szenen aus dem Arbeits- und Alltagsleben. Was „Bremen im Bild“ jedoch beispielsweise von Holle Weisfelds ebenfalls bei Temmen erschienenen „Photografischen Streifzügen“ unterscheidet, ist die Dichte der mitgelieferten Information.

Knauf gelingt es, sowohl in grundlegenden Kapiteln zum „kulturellen Gedächtnis“ oder zur „Spezifik der Fotografie“, aber auch konkret anhand der einzelnen Bilder, so vielfältige Aspekte wie Sozialstruktur, Architektur, Wirtschaft oder gegebenenfalls Religionskunde zu exemplifizieren.

Immer dabei: eine Reflexion zur Medienrezeption. Selten bekommt man so kompakte Kontextualisierungen geliefert. In Zeiten, in denen selbst Bäckereifilialen auf die auratische Aufladung ihrer Discount-Locations durch reichlich Sepia-Braun setzen, ist das ein ebenso wohltuender wie notwendiger Ansatz.

Mit diversen Farbfotografien dokumentiert Knauf etwa den immensen Aufwand, den die Stadt 1939 betrieb, um Hitler anlässlich einer Brückeneinweihung zu empfangen. Dutzende goldener Reichsadler auf hohen Sockeln säumten die Bahnhofsstraße. Hitler sagte jedoch kurzfristig ab. Vier Jahre zuvor soll er Bremen als „Schweineplatz“ tituliert haben, weil die Belegschaft der AG Weser nicht in den erwarteten Jubel bei der Taufe der „Scharnhorst“ durch Hitler ausgebrochen sein soll.

Knauf widmet sich eingehend der Frage, welchen ideologischen Standpunk der Fotograf Heinrich Raschen wohl eingenommen hat, während er die perfekte Inszenierung des geplatzten Hitler-Empfangs in seinem Medium reproduzierte. Und erwähnt en passant, dass die Schwachhauser Parteizugehörigkeits-Quote im Jahr 1938 mit 1:21 dreimal so hoch war wie der Gröpelinger Wert.

von Diethelm Knauf ist in der Edition Temmen erschienen, hat 240 Seiten, 165 Abbildungen und kostet 19,90 Euro. Herausgeber ist das Zentrum für Medien im Landesinstitut für Schule (LIS).

Die Wohnsituation im Nachkriegs-Bremen bildet einen weiteren spannenden Themenkomplex. Knauf liefert hierzu eindrückliche Fotos und nüchterne Fakten: Trotz der im Juli 1945 durch die Besatzer verhängten Zuzugssperre seien bis Ende des Jahres 30.000 Flüchtlinge in die zu 60 Prozent zerstörte Stadt geströmt.

Einen – allerdings in Niedersachsen Gestrandeten – lässt Knauf sogar unmittelbar zu Wort kommen: „Wir Flüchtlinge werden auf engstem Raum zusammengepfercht, wogegen es noch viele Einheimische verstehen, aber auch nichts von ihrer Wohnbequemlichkeit preiszugeben (...) man verbietet uns die Benutzung der Klosetts (...) man will uns Gas und elektrischen Strom nicht benutzen lassen, trotzdem uns Kontingente eingeräumt sind (...) tausenderlei andere Schikanen ersinnt man, um uns das Leben zur Hölle zu machen.“

„Bremen im Bild“ hält weitaus mehr, als der in nostalgischen Schnörkeln gehaltene Cover-Titel verspricht. Es ist keine lokalhistorische Wundertüte – sondern ein hervorragend gestaltetes Kompendium der Interpretationskunde. Allerdings: Die postulierte Idee, „natürlich gleichzeitig akademischen Ansprüchen genügen“ zu wollen, wird durch das völlige Fehlen von Quellenangaben konterkariert.

Zudem hätte Temmen – wie schon bei seinen Bremen-Lexika – mehr Mühe ins Lektorat investieren sollen. Etwas irritierend ist es schon, wenn Oberbaurat Friedrich Lempe, von dem sehr viele der ausgewählten Fotografien stammen, unvermittelt den Namen des UN-Sonderbeauftragten für Sport annimmt. Oder wenn die im Text vorgenommene Datierung gleich des ersten präsentierten Fotos – der kutschenbestückte Marktplatz – von der auf dem Bild selbst vermerkten Jahreszahl begründungslos abweicht.

Dabei ist gerade hier der Unterschied zwischen 1885 und 1888 substantiell: 1888 brannte die zwischen Rathaus und Liebfrauenkirche gelegene Alte Börse aus. Das Foto jedoch verewigt die gelungenen Proportionen ihres klassizistischen Baukörpers, an dessen Stelle heute nur Leere liegt.

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