Erzähler von Edinburgh: Die Stadt der lebenden Legenden

Im Zentrum der schottischen Hauptstadt inszenieren Tourguides und Schauspieler Geschichte zum Mitspielen.

Auf der Harry Potter-Tour in Edinburgh. Bild: Robert Fishman

Die Geschichtenerzählerin hebt und senkt ihre Stimme, schaut ihre Zuhörer mit großen Augen an, malt mit ausladenden Gesten Bilder in die Luft, hält kurz inne, um mal leiser, mal lauter, mitunter flüsternd, die Geschichte zu ihrem Höhepunkt zu tragen und schließlich aufzulösen.

Zwanzig unterschiedliche Leute sitzen in einem großen Kreis und lauschen: Lehrerinnen, ein Pfarrer, eine Journalistin aus New York, eine Langstreckenläuferin aus Bulgarien, eine Australierin, eine deutsche Studentin, ein Wirtschaftsanalyst. Sie folgen einer weißhaarigen Dame, die die alte Geschichte vom König und den drei gleichen Puppen erzählt.

„Wie habe ich erzählt? Was ist euch aufgefallen?“, fragt Senga und bekommt Antworten wie: „Du hast uns einbezogen“, oder: „Du hast die Geschichte dramaturgisch entwickelt, Fragen, Pausen und überraschende Wendungen eingebaut.“

Scottish Storytelling Centre: Das Haus der schottischen Geschichten, Mythen und Legenden zum Lesen, Hören, Sehen und zum Entwickeln der eigenen Fähigkeit, Geschichten zu erzählen 43-45, High Street (Royal Mile), www.scottishstorytellingcentre.co.uk

Visit Scotland auf Deutsch: www.international.visitscotland.com/de und www.visitscotland.org, schottlandportal.de Schottlandführer im Netz: www.willkommeninschottland.com, Edinburgh-Infoportal (Events, Shopping etc.) www.informededinburgh.co.uk

Edinburgh-Stadtführer:edinburghguide.com und www.edinburgh.org mit Unterkunftsuchmaschine; Edinburgh-Seite mit Restaurants, Hotels, Clubs und Festivalinfos, umfangreich und übersichtlich, auch als App zum Herunterladen: www.viewedinburgh.co.uk

Vergesst eure Erwachsenenlogik!

Dann hält die etwa 1,50 Meter kleine quirlige Dame ein Tuch in die Luft, so groß wie sie selbst. Darauf sind dunkelblaue, blumenähnliche Ornamente gedruckt. „Was seht ihr?“, fragt Senga und wartet geduldig auf die Antworten: „Vielleicht ein Mutterraumschiff an das Tochterschiff andocken?“, sagt einer in der Runde etwas unsicher zögernd. „Ein Wald, eine Blume, ein Kirchenfenster, große und kleine Tränen, ein fliegender Teppich, ein Zaubertuch …“ Immer schneller kommen die Antworten, bis der Ideenstrom allmählich versiegt. „Vergesst eure Erwachsenenlogik, wenn ihr gute Geschichtenerzähler sein wollt“, verkündet Senga. „Vorschulkinder sind die kreativsten Denker.“

In Workshops wie diesem vermittelt die 75-Jährige im Scottish Storytelling Centre das Handwerk des Geschichtenerzählens. Sie erklärt das Prinzip der Dramaturgie, den Dreiklang von Anfang, Höhepunkt und Schluss, gibt Tipps für die ansprechende Präsentation und fasst die Kunst des Erzählens schließlich in einem Satz zusammen: „Ein guter Geschichtenerzähler kommuniziert – mit den Augen, den Händen, dem Herzen.“ Das ganze Leben ist für Senga „eine Reise voller Geschichten“.

Ihre Oma habe sie in die Geheimnisse des Erzählens eingeweiht. „Sie hatte kein Fernsehen, kein Radio, kein Internet und sprach kaum Englisch.“ Aufgewachsen ist auch Senga mit der alten Sprache der einfachen Menschen in Schottlands Süden und Osten, dem „Scots“. Wer gebildet war oder sich dafür hielt, parlierte im Idiom der Engländer, die Schottland einst eroberten und kolonisierten.

Der Geschichtensammler

Draußen vor dem Storytelling Centre schimpft ein älterer Herr, dass diese ganzen Geschichtenerzähler hier doch keine Schotten seien. „Hören Sie mal auf den Akzent, alles Engländer.“ Allmählich redet er sich in Rage und erzählt, dass der Scottish National Trust, der das schottische Kulturerbe verwalten soll, seine Familie aus ihrem Mietshaus vertrieben habe, um dort – englische – Mitarbeiter anzusiedeln. Natürlich gebe es Fehlentscheidungen, aber es stimme nicht, dass Schotten systematisch benachteiligt würden, sagt David Campbell.

Der 77-jährige Geschichtenerzähler und „selbstverständlich überzeugte Schotte“ trägt einen Kilt (Schottenrock). Seine langen, weißen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über Jahrzehnte hat David im ganzen Land Geschichten zusammengetragen und Legenden des hier „Traveller“ oder „Tinker“ genannten fahrenden Volkes gesammelt. Jede sei für ihn „ein wertvolles Geschenk. Wenn du sie erzählen willst, musst du die Menschen lieben.“

Auch Harry Potter war hier

Schottlands Geschichten entstanden in den weiten, kaum besiedelten Landschaften. „Oft geben Geschichten Erklärungen für Dinge, die Menschen nicht verstanden haben“, erklärt Bruce, ein anderer Geschichtenerzähler im Storytelling Centre: Heidekraut blüht normalerweise lila, doch zwischendurch sprießen immer wieder weiße Büschel aus der Heide. Einer Sage zufolge ist der Grund die Trauer einer jungen Frau über den Verlust ihres Liebsten: Nachdem ihr ein Bote die Nachricht vom Tod ihres Bräutigams übermittelt hatte, weinte sie wochenlang. Überall, wo eine Träne zu Boden fiel, wusch sie die lila Farbe aus dem Kraut, und so sei es bis heute geblieben.

Auf der Royal Mile zwischen dem wuchtigen, in den Fels geschlagenen Königsschloss und der bald 250 Jahre alten North Bridge buhlen viele Erzähler um die Aufmerksamkeit der Passanten. Vor der Kathedrale Saint Giles, einem gotischen Bau aus dem 15. und 16. Jahrhundert, werben junge Leute für ihre geführten Touren: Pub Crawls, Kneipentouren, historische Stadtrundgänge, Geistertrips durch die Verließe unter der Altstadt oder ein Rundgang mit einer Zauberin auf den Spuren von Harry Potter.

Moosbewachsene Grabsteine und Glitzerstäbchen

Becky ähnelt mit ihrer runden Brille und dem schwarzen Umhang tatsächlich dem Zauberlehrling. Routiniert führt die englische Studentin durch Greyfriar’s Graveyard, einen kleinen Friedhof. Vor einem der uralten, moosbewachsenen Grabsteine verteilt sie Zauberstäbe. Sie fertige die „magic sticks“ zu Hause beim Fernsehen. Plastikstäbe, die sie rosa, lila, blau, rot und gelb einfärbt und mit Glitzersternchen beklebt. Während eines Fernsehkrimis schaffe sie locker zehn davon.

Unterwegs zeigt Becky die Stellen, die sich in J. K. Rowlings Romanen wiederfinden: Das College, das das Vorbild für die Zauberschule Hogwarts lieferte, Namen auf Grabsteinen, die die Autorin für ihre Figuren verwendete, und das Café, in dem sie den ersten Potter-Band schrieb. Kurz bevor das Buch erschien, wurde das Lokal geschlossen. „Ich glaube, die hatten keinen guten Manager, da er sich diese Marketingchance entgehen ließ“, merkt Becky an. Inzwischen werben viele Pubs damit, dass hier Harry Potter erfunden wurde.

In Edinburgh lebte Joanne Rowling als alleinerziehende Mutter von Sozialhilfe. Mehrere Verlage lehnten ihr erstes Werk „Harry Potter und der Stein der Weisen“ ab, bis schließlich nach zwei Jahren einer das Manuskript annahm. Den letzten Potter-Band schrieb sie bereits in einer Suite des Luxushotels Balmoral mit inspirierendem Blick auf die Kulisse der Edinburgher Altstadt.

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