Kolumne Darum: Wie peinlich!

Früher war ich für die Kinder ein Held. Heute bin ich ihnen nur noch peinlich. Dabei sind sie es, für die man sich schämen muss.

Sich vor lauter Peinlichkeit verbergen? „Wie peinlich!“ Bild: photocase / 106313

Ich bin peinlich. Ich habe den Ball geküsst. Ich habe einen schlechten Witz gemacht. Ich habe mich vor Zeugen lautstark über meine Kinder beschwert. Nichts davon ist neu. Fußball-Angeberposen beherrsche ich seit der E-Jugend. Meine Witze sind seit Jahrzehnten schlecht. Seit elf Jahren weiß ich, dass es nichts bringt sich leise und im Verborgenen über Kinder zu beschweren. Neu ist nur die Reaktion eines präpubertären Kindes.

Was immer ging, geht nun nicht mehr. „Papa, du bist so peinlich!“ Ständig hören wir zuhause nun diesen Satz. Mit „Mama“ geht er auch. Oma und Opa, die die Kinder jetzt in den Ferien bei sich haben, werden den Satz in der passenden Variante bald ebenfalls zu schätzen wissen.

Ich habe jahrelang Fußball gespielt, bis der Meniskus kaputt war. Seither geht nichts mehr, außer einmal im Jahr, wenn beim Sommerfest des Fußballclubs meiner Tochter die Väter gegen die E-Juniorinnen ran müssen. Der Meniskus, die Raucherei, das Alter – konditionell geht nicht mehr viel. Aber vor dem gegnerischen Tor verbreite ich immer noch Angst und Schrecken.

So auch diesmal. Das 1:1 gegen die E-Mädchen des FC Internationale Berlin, ein Volleyschuss in den Winkel, hat das Zeug zum Tor des Jahres. Da küsst man dann auch mal den Ball vor Freude. Völlig unverständlich also, warum meine Tochter in solchen Momenten ihren Mitspielerinnen seltsame Zeichen gibt, mit hochrotem Kopf den Platz verlässt und mir zuruft: „Du bist peinlich!“ Das ist unsportlich, nein: Es ist ein „Dirty Talk“ neuer Art.

Eine Kollegin, mit der ich neulich über das Thema sprach, erzählte, immer wenn sie mal ihre Kinder aufheitern wolle, sage ihr Sohn: „Alle schweigen, keiner lacht – Mama hat 'nen Witz gemacht.“ Das gefiel mir und ich gab die Anekdote zu Hause an meine Kinder weiter. Seither kann ich keinen Witz mehr machen, ohne dass mir dieser Satz leicht abgewandelt um die Ohren fliegt. Wie dumm kann man sein. Nein, korrigieren mich die Kinder, „wie peinlich“. Dann kommt ein Gewitter, es blitzt und donnert, und schwupp sind beide Kinder in unserem Bett.

„Wie peinlich“, möchte ich rufen, unterlasse es aber, weil sie schon wieder schlafen, und ziehe aus dem überfüllten Bett um aufs Wohnzimmersofa. Dort werde ich morgens davon wach, wie jemand auf der Toilette bei offener Tür Weihnachtslieder schmettert – mitten im Sommer. Ich rufe: „Wie peinlich“, aber der Ruf verklingt ungehört wegen der rauschenden Toilettenspülung. Ich ärgere mich, dass dieser gute Witz kein Publikum gefunden hat und eile in die Küche, um schnell die Pausenbrote zu machen. „Pausenbrote? Wir haben Ferien. Oh, wie peinlich!“, schallt es voller Häme aus dem Flur.

Ja. Es stimmt. Ich bin peinlich. Ich bin peinlich, wenn ich morgens aufstehe, und wenn ich abends ins Bett gehe, hat sich noch mehr Peinlichkeit angesammelt. Das ganze Leben ist nichts anderes als eine große Ansammlung an Peinlichkeiten. Kinder könnten von Erwachsenen lernen, dass es Schlimmeres gibt als peinlich zu sein. Das ist ein schöner und wahrer Satz. Doch er ist leider auch (und jetzt alle): „Peinlich!“

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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