AKW-Pläne in Kasachstan: Kühe am Atomsee

In Semipalatinsk testeten die Sowjets ihre Atombomben. Die Menschen wissen, dass das Leben dort ungesund ist. Jetzt will Kasachstan dort ein AKW bauen.

Die Sowjets schufen den See zur Erholung und Bewässerung. Drei Mikrosievert pro Stunde zeigt der Geigerzähler heute noch am Ufer. Bild: Marcus Bensmann

SEMIPALATINSK taz | So sieht wohl die Geburtsstätte von Godzilla aus. Schilfpflanzen umwuchern einen Tümpel in der Senke, die ein aufgeworfener Sandwall umschließt. Ein rostiges Eisenrohr ragt aus der Erde. Das Erdloch liegt inmitten einer Steppenlandschaft, die sich in alle Himmelsrichtungen zum Horizont erstreckt. Die unterirdische Explosion einer Atombombe riss auf dem einstigen sowjetischen Testgelände Semipalatinsk dieses Loch in den Boden. Der Geigerzähler misst heute 0,443 Mikrosievert pro Stunde.

Bis 1989 explodierten 496 Atombomben auf dem Testgelände der damaligen kasachischen Sowjetrepublik, über 100 davon oberirdisch. Über Semipalatinsk ging die Sprengkraft von 2.500 Hiroshima-Bomben nieder. Heute kann der Reisende ungehindert über die mit Kratern überzogene Steppe ziehen, ohne von einem Schlagbaum oder einem Zaun abgehalten zu werden. Eine Reiseagentur aus der nordkasachischen Stadt Karaganda organisierte bis vor Kurzem sogar Touren auf das Gelände zum Fotoshooting im Krater.

Nicht weit vom Loch ragt eine Betonstele aus dem Boden. Mit Gesichtsmaske und Gummistiefel springt der Fahrer aus dem Jeep und legt den Geigerzähler auf das Gestein. Elf Mikrosievert pro Stunde gibt dieser tickend an. Kühe ziehen grasend durch die Steppe.

Das Gelände: 1949 richtete die Sowjetunion das 18.000 Quadratkilometer große Gebiet nahe Semipalatinsk (heute Kasachstan) für Atombombentests ein. Bis 1989 wurden hier 496 Tests (bis 1962 oberirdisch) durchgeführt. 1991 wurde das Areal stillgelegt.

Die Strahlenbelastung: Sievert ist die Maßeinheit, mit der die biologische Wirkung von radioaktiver Strahlung angegeben wird. Angaben sind in Tausendstel Sievert (Millisievert) oder Millionstel (Mikrosievert) üblich. In Deutschland darf ein Mensch zusätzlich zur natürlichen Strahlung mit maximal 1 Millisievert (mSv) pro Jahr belastet werden. Bei einer Belastung zwischen 1 und 6 Sievert können Übelkeit, Erbrechen, Fieber und Haarausfall auftreten. Bei 5 bis 20 Sievert sind Schock und Blutungen mögliche Folgen. Bei mehr als 20 Sievert tritt der Tod innerhalb von zwei Tagen ein.

„Für uns war das aufregend“

Kutescham Abuischejwa kann sich noch an die überirdischen Explosionen erinnern. Die heute 86-jährige Frau geht am Stock. Ein weißes Tuch bedeckt ihren Kopf, und eine braune Samtweste ist über dem grüngelben Kleid zusammengeknöpft. „Ein roter Feuerball stieg in den Himmel“, erinnert sich die Kasachin. Zuvor seien Uniformierte ins Dorf gekommen und hätten ihnen gesagt, sie sollen nicht in den Himmel gucken. „Aber wir waren doch noch klein, und für uns war das aufregend“, sagt Abuischejwa, ein Lächeln huscht über das runzlige Gesicht. Die Erde habe gebebt und das Geschirr im Schrank geklirrt.

Die alte Frau wohnt noch immer in Abai unweit des Testgeländes. Das Dorf besteht aus kleinen einstöckigen Gehöften mit Zaun und Gärten. Die älteste Tochter hat Karriere gemacht und steht der Gemeinde als Bürgermeisterin vor, die andere ist tot, sie starb vor zwanzig Jahren an Krebs.

Unmittelbar um das Testgelände liegen Dörfer und Ortschaften. Die meisten Bewohner in den Siedlungen wollen sich nicht an die Zeit erinnern. Viele weigern sich standhaft, mit Fremden oder gar mit Journalisten zu reden. Die sonst in Zentralasien übliche Gastfreundschaft weicht in der Umgebung des Testgeländes Misstrauen, ja Feindschaft. Die Schotterstraßen sind wie leergefegt. Einige Männer sitzen vor dem Badehaus und lassen eine Wodkaflasche kreisen. Ein Gespräch lehnen sie brüsk ab. Und der Hirte, der am Abend bei Sonnenuntergang mit den Pferden und Kühen von der Steppenweide heimkehrt, kommt gar knüppelschwingend auf Fremde zu.

Besuch von Journalisten ist unerwünscht

In Sarjal, einem kleinen Ort am südöstlichen Ende des Testgeländes, sitzt müde Ajschon Imadalijewa im geweißten Raum der Krankenstation. „Die Menschen sterben an Krebs, haben dauerhaft hohen Blutdruck und sind aggressiv“, beschreibt die Ärztin den Gesundheitszustand der Bevölkerung. „Sie attackieren mich, wenn ich mit Journalisten rede“, berichtet sie. Seit dem Zerfall der Sowjetunion kämen immer mehr Journalisten und Forscher in den Ort und hörten sich die Geschichten an, aber die Menschen sähen keine wirkliche Hilfe. „Das verbittert sie“, sagt die Ärztin, man wisse schließlich, dass das Leben hier ungesund sei, und die Menschen wollten nicht wie in einem Zoo angegafft werden. Viele möchten aber auch gar nicht weg. „Die Gräber der Familie liegen doch hier.“

Zwischen Sarjal und der kasachischen Stadt Semipalatinsk liegt auf dem Testgelände der Atomsee. Als Beweis, dass die Sprengkraft dieser Bomben auch zu friedlichen Mittel eingesetzt werden könnte, schufen die sowjetischen Techniker mit einer gewaltigen Explosion dieses Gewässer, das der Erholung und Bewässerung dienen sollte. Sowjetische Soldaten sollen damals im See gebadet haben.

Drei Mikrosievert pro Stunde gibt der Geigenzähler am aufgeschütteten Seeufer an. Unweit des Sees wohnt ein Hirte. Der Wind weht harsch über die Steppe. Zwei Gäule haben sich losgerissen und laufen in die Weite. Der Farmer hetzt fluchend hinterher. „Mir geht es gut hier. Die Tiere sind gesund und ich verkaufe das Fleisch auf dem Markt in Semi“, sagt der Mann, nachdem er die Pferde wieder angebunden hat, außer Atem.

Auf die Frage, ob die Pferde und Kühe auch zum Atomsee gingen, fliegt ein Grinsen über das wettergegerbte Gesicht. „Hier gibt es keine Zäune, wer soll sie daran hindern?“

Japanische Wissenschaftler beobachten und messen

Das von sowjetischen Stadtplanern geprägte Semipalatinsk liegt an den Ufern des aus Sibirien kommenden Flusses Irtysch. In den Markthallen wird ab dem frühen Morgen gehandelt. In der Fleischabteilung hängen die Keulen und Stücke am Haken. Eine Verkäuferin erklärt, dass die Hirten von der Umgebung das Fleisch zum Markt brächten.

Tolebai Rachibekow ist Direktor der medizinischen Universität in der kasachischen Provinzhauptstadt. In dem ausladenden Büro liegt auf einer Anrichte ein Samurai-Schwert. „Mit den japanischen Kollegen haben wir enge Beziehungen“, sagt der 49-jährige Wissenschaftler stolz. Es gäbe weltweit kaum einen Landabschnitt, wo die Menschen über einen so langen Zeitraum ständig neuer Strahlung ausgesetzt waren.

„Die Belastung der Menschen ist hoch“, räumt der Wissenschaftler ein, sie würden gerade erforschen, wie sich die genetischen Veränderungen entwickle. Kasachstan arbeite daran, eine umfassende Datenbank anzulegen, die alle Menschen erfasst, die erhöhter Strahlung ausgesetzt waren.

Auf dem Friedshof ist Kaum einer über 60

Die Strahlung in den Dörfern sei heute nicht mehr lebensbedrohlich, versichert Rachibekow. Aber man beobachte die Auswirkungen. „Auf unseren Friedhöfen gibt es kaum das Grab eines Menschen, der älter als sechzig Jahre geworden ist.“

Die Arbeiter auf dem Friedhof von Tolon bestätigt die Angaben des Direktors. Das Dorf liegt am Nordufer des Irtysch, der Strom ist die Grenze der baumlosen Steppe, und die Ruhestätten liegen in hohen Kiefernwäldern. Auf den mit Fotos geschmückten Gräbern findet sich kein Grabstein mit Jahreszahlen, die von einem Greis erzählen.

Das Dorf Tolon geriet bei den überirischen Atomexplosionen durch ungünstige Winde in den direkten Fallout. Viele Häuser sind heute verfallen. Es gibt keine Arbeit, und viele Menschen ziehen weg.

Ballsäle für die Wissenschaftler

Panu Kenschibekowa und dessen Mann Nurgali sind geblieben. „Wo sollen wir auch hin?“, fragt die 74-Jährige in der Küche neben dem Ofen, ihr weißhaariger Mann mit einem Spitzbart nickt zustimmend. Der 40-jährige Sohn sitzt apathisch am Tisch, spricht kaum, kann sich nicht konzentrieren und starrt in die Luft. Er erhält Invalidenrente, raunt die Mutter. „Uns hat das Schicksal getroffen! Unserer Sohn ist ohne Antrieb und eine Tochter früh gestorben.“

Die Atombombentests, die die Strahlenwolke nach Tolon brachten, haben die sowjetischen Wissenschaftler in Kurtschatow ausgeheckt. Die Forscherstadt am nordöstlichen Zipfel des Testgeländes wurde Ende der vierziger Jahre errichtet und trägt den Namen des Atomphysikers Igor Kurtschatow, des Vaters der sowjetischen Atombombe, der hier von Beginn an gearbeitet hat. Noch heute ziert ein Denkmal des spitzbärtigen Wissenschaftlers das Stadtzentrum.

Großzügige Villen, Theater und Ballsäle wurden hier für die Wissenschaftler errichtet. Am Sackbahnhof fuhr auch Andrei Sacharow in die geschlossene Stadt ein, um hier zu forschen. Nach dem Ende der Sowjetunion setzte der Verfall ein. Die Bewohner verließen die Stadt, die Häuser leerten sich, die Fassaden verfielen. Doch seit einiger Zeit tut sich etwas. Neue Nuklearzentren eröffnen in Kurtschatow. Über den Straßen hängen Plakate, die die „friedliche Nutzung der Atomenergie“ als Basis für das wirtschaftliche Wachstum beschwören.

1991 die Atomwaffen freiwillig abgegeben

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat das unabhängige Kasachstan unter dem seit 1991 regierenden Präsidenten Nursultan Nasarbajew die auf dem Gebiet befindlichen Atomwaffen freiwillig abgegeben. Auch das Testgelände Semipalatinsk wurde geschlossen. Seither feiert sich Nasarbajew als Musterschüler des Atomwaffensperrvertrags.

Aber heute setzt der Steppenautokrat wieder auf die „friedliche Nutzung“ der Atomenergie. Kasachstan will Kernkraftwerke bauen – und Semipalatinsk bietet sich als Standort an. Der jung- dynamische Bürgermeister von Kurtschatow, Dimitri Garikow, schwärmt. „Wir haben hier weder eine Tsunami- noch Erdbebengefahr.“ Seine Stadt sei schließlich viele tausende Kilometer von einem Meer entfernt. Keine Flugzeuge kreuzen, der Luftraum gelte als sicher.

„Es gibt keinen Grund zur Panikmache“, sagt Garikow. Krebs sei schließlich eine allgemein verbreitete Krankheit, selbstverständlich könne man in Kurtschatow leben. „Große Teile des Testgeländes sind unbedenklich“, erklärt er. Und die gefährlichen Stellen seien gesichert. Die Betonstele und den Atomsee kann er nicht gemeint haben.

„Unser Gelände bietet sich an“, sagt Dimitri Garikow noch einmal. Die japanische Atomwirtschaft habe beim Bau eines Reaktors bereits Hilfe zugesagt.

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