Weltlichkeit: „Der Rückzug des Staates ist offenkundig“

Kirchen sind der Stachel im Fleisch der staatlichen Flüchtlingspolitik, sagt der Theologe Rolf Schieder – plädiert aber für eine gemeinsame Gesprächsebene.

Grenzkontrollen als Flüchtlingspolitik der Staaten. Bild: DPA

taz: Herr Schieder, braucht Berlin die Kirchen?

Rolf Schieder: Die Kirchen waren immer schon gesellschaftliche Akteure. Sie haben Kindergärten, diakonische Einrichtungen und Schulen betrieben. Aber gerade in Berlin wird sichtbar, dass sie wegen ihrer transnationalen Orientierung wichtig sind für die Integration von Menschen aus anderen Ländern. Die großen Kirchen haben hier enge Kontakte zu den kleinen Migrantenkirchen. Seit 1990 sind in Berlin 120 davon entstanden, 80 afrikanische, 40 asiatische. Aber wie nötig Kirche ist, ist mit Blick auf andere Länder noch deutlicher: Dort ist sie oft das einzige soziale Netz. Es gibt keine politischen Strukturen, die die Menschen auffangen.

Das kann man mit Bezug auf die aktuelle Berliner Asylpolitik ja genauso sagen.

Das stimmt tendenziell. Der Rückzug des Staates aus vielen sozialen Bereichen ist evident. In der alten Bundesrepublik herrschte noch der Glaube, der Wohlfahrtsstaat sei die Zukunft: „Vater Staat“ sorgt für uns alle. Aber da er seine Verpflichtungen nicht mehr erfüllen kann, wird „Mutter Kirche“ wieder wichtiger. Man erkennt, dass die deutsche Idee vom Staat, der alles richtet, nicht so zukunftsfähig ist, wie viele dachten.

Inwieweit muss Kirche überhaupt Politik machen?

Das Evangelium ist immer politisch. Staat und Kirche werden daher immer in einem Spannungsverhältnis leben. Christen fragen sich, gegenüber welcher Macht sie sich letztlich verantworten müssen. Für sie ist staatliche Macht etwas Vorläufiges – im Zweifelsfall muss man Gott mehr gehorchen als dem Staat. Insofern ist allein die bloße Existenz von Kirche ein politisches Statement. Im Philipperbrief des Paulus steht: „Wir haben unser Bürgerrecht im Himmel.“ Mit anderen Worten: Christen besitzen eine doppelte Staatsbürgerschaft. Das macht frei.

60, ist seit 2002 Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität und unter anderem Mitglied im Forschungsbereich Religion und Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religion in Deutschland und die religiöse Dimension politischer Kultur.

Frei genug, zu Innensenator Henkel zu sagen: Sie sind in einer christlichen Partei – wieso handeln Sie nicht so?

Kirchen haben alles Recht, gerade an die CDU zu appellieren und sie an ihre Verantwortung als Christen zu erinnern. Das ist eine gute Strategie, um Politiker zum Nachdenken zu bringen und zu zwingen, sich zu rechtfertigen.

Verlässt sich die Politik darauf, dass die Kirche es richtet?

Ich glaube nicht, dass der Staat so glücklich ist, wenn sich die Kirchen auf diesem Feld immer stärker engagieren, weil sie ja nicht nur praktisch aktiv werden, sondern auch immer lauter nach Reformen rufen.

Nach dem Motto: Wir leisten etwas, dann wollen wir im Gegenzug auch was?

Warum nicht? Gastfreundschaft ist so zentral für den christlichen Glauben, dass die Kirchen immer ein Stachel im Fleisch bei der Flüchtlingspolitik sein werden. Aber die Kirchen dürfen keine politischen Romantiker sein, Maximalforderungen stellen und die politischen Realitäten nicht ernst nehmen.

Sie sprechen aus Erfahrung?

Ich bin da als Alt-68er-Theologe ein gebranntes Kind. Wir waren damals fest davon überzeugt, dass Christen Sozialisten sein müssten. Wir fühlten uns unwahrscheinlich revolutionär, nahmen aber die gesellschaftliche und politische Realität nicht wahr. Man muss Ideale haben, aber auch Verständnis dafür, dass Politik sich langsamer bewegt als man das selbst gerne hätte.

Ganz schön abgeklärt.

Eine Kirche, die nur noch symbolische Appelle macht und vollmundig den Systemwechsel propagiert, aber nichts tut, ist unglaubwürdig. Nehmen Sie das Kirchenasyl: Die Spannung zwischen Recht und Barmherzigkeit wird von beiden Seiten anerkannt. Staatliche Stellen dulden diese Praxis, obwohl sie illegal ist. Als kirchlicher Akteur muss man zur Kenntnis nehmen, dass es sich um einen Rechtsbruch handelt. Das Faszinierende beim Kirchenasyl ist aber, dass die beiden Akteure eine gemeinsame Gesprächsebene finden. Man kann in Einzelfällen eben mehr erreichen, wenn man den Staat nicht als Feind sieht. Ist man als Christ politisch engagiert, ist die Motivation zwar christlich, die Ziele sind vom Christentum inspiriert. Aber wenn sie sich durchsetzen sollen, müssen sie verallgemeinerbar sein.

Als der Berliner Pfarrer Jürgen Quandt vor 30 Jahren seine Türen aufmachte und die Tradition des Kirchenasyls begründete, tauchte die Frage auf, ob das überhaupt Aufgabe der Kirche ist. Wie hat sich die Debatte verändert?

Die Debatte über die Aufgaben der Kirche in der Welt gibt es ja nach wie vor. Nehmen Sie Papst Benedikt den XVI., der die Entweltlichung der Kirche gefordert hat. Da droht die Gefahr des Rückzugs der Kirche ins Ghetto. In einer sich wandelnden Gesellschaft ist die Kirche darauf angewiesen, dass sie anerkannt wird und glaubwürdig ist. Und dafür ist es wichtig, nicht nur zu reden, sondern auch sichtbar zu handeln. Kirche muss sowohl diejenigen unterstützen, die aus Gewissensgründen die staatliche Politik nicht mehr ertragen, aber gleichzeitig im Austausch mit Polizei und Ausländerbehörde bleiben, um sich für humanitäre Standards einzusetzen. Man sollte nie vergessen, dass wir in einem demokratischen Staat leben, in dem Gesetze nicht in Stein gemeißelt sind.

Wie haben Sie den Beginn des Kirchenasyls und die Debatte in der Kirche erlebt?

Damals war ich noch in Bayern, und da gab es Gemeinden, die sich entschlossen, Kirchenasyl einzurichten. Einige glaubten, dass das staatliche Recht an der Kirchentür aufhöre. Die Kirche ist aber kein rechtsfreier Raum. Das wäre politische Romantik. Andere entschieden sich bewusst für einen Akt zivilen Ungehorsams, im Wissen, was das für sie selbst bedeuten kann: dass einem die Kirchenleitung nur bedingt Schutz gewähren kann, wenn die Staatsanwaltschaft vor der Tür steht.

Wie revolutionär war das, was Quandt machte?

Viele damals hatten eine wache Erinnerung an den Kirchenkampf und fühlten sich den Vorfahren verpflichtet. Sie wussten: Es kann immer wieder eine Situation kommen, in der man bekennen muss. Natürlich hatten einige auch Angst. Als quasi verbeamtete Pfarrer mit einer sehr bürgerlichen Biographie war ziviler Ungehorsam Neuland.

Und die Kirchenbasis?

Nur etwa zehn bis 15 Prozent derjenigen, die Kirchensteuern zahlen, sind in Gemeinden aktiv. Nur der politisch engagierte Teil der Kerngemeinde dachte übers Kirchenasyl nach. Die große schweigende Mehrheit der Kulturchristen fragte sich: Was habe ich damit zu tun, die Kirche soll sich nicht in die Politik einmischen! Aber für die, die das Evangelium ernst nahmen, stand die politische Dimension des Evangeliums nie in Frage.

Die Kirchenbasis in Berlin engagiert sich seit zwei Jahren vermehrt für Flüchtlinge. Woher kommt das?

Es gibt überall auf der Welt die Tendenz, dass man sich nicht mehr religiös versorgen lassen will, sondern dass sich die Gläubigen engagieren möchten.

Die Kirche ist also nicht mehr nur spiritueller Dienstleister?

In Deutschland war das lange so. Bei uns ist die Kirche für viele so etwas wie die Feuerwehr – man zahlt dafür, dass es sie gibt, aber keiner will sie jede Woche im Haus haben. Nur in den Notfällen des Lebens wie Trauungen, Taufen, Beerdigungen nimmt man Kontakt mit ihr auf. Mit dem Rückzug des Staates aus der gesellschaftlichen Verantwortung wird aber das Bewusstsein wachsen, dass ich mich einbringen muss.

Dann müssten die Mitgliederzahlen doch aber steigen?

Nicht notwendig. Kirchen sagen längst: Bei uns kann man sich politisch und kulturell engagieren, aber man muss sich dafür nicht taufen lassen. Neulich erzählte mir der Direktor einer diakonischen Einrichtung im Erzgebirge, dass er zu seinen konfessionslosen Mitarbeitern sage: Ihr seid unsere Controller, Ihr seht, ob das, was wir sagen, und das, was wir tun, übereinstimmt. Dass ihr nicht getauft seid, ist für uns kein Mangel, sondern ein Vorteil.

Wie gut ist das alles fürs Image der Kirche?

Na ja, Berlin ist ja auch die Stadt von Thilo Sarrazin, das darf man nicht vergessen. Es gibt hier auch viel Fremdenangst. Die Kirchen stehen für ein Milieu, das nicht unbedingt die Mehrheit in der Stadt repräsentiert. Mit ihrem politischen Engagement exponieren sie sich. Aber wenn sie der Botschaft des Evangeliums treu bleiben wollen, müssen sie dieses Risiko eingehen.

Es tut sich also nichts?

Religionssoziologisch stellt man seit einiger Zeit fest, dass die Mitgliederzahlen zwar nicht steigen, dass sich aber die Einstellungen zur Religion ändern, dass sich der Wind dreht. Wenn man 1990 einen Jugendlichen aus dem Osten fragte, ob er religiös sei, konnte man mit der Antwort rechnen: Nein, ich bin ganz normal. Mittlerweile ist Religion nicht mehr anormal.

In Deutschland betont man gern die Trennung von Kirche und Staat. Nähern sich die beiden wieder an?

Wir haben nie in einem Land gelebt, in dem es eine Trennung von Staat und Kirche gibt! Wir haben in Deutschland ein Modell der Kooperation auf allen Ebenen. Und die wird immer stärker – der Staat ist heilfroh, dass es die Kirchen gibt. Der Vorteil der Kirchen ist: Sie sind parochial organisiert. Es gibt keinen Flecken in Deutschland, für den nicht irgendeine Gemeinde zuständig ist. Lange dachte man, die Kirche sei ein Anachronismus, mit ihr ginge es bergab. Es ist umgekehrt: Je weniger der Staat seine Versprechen einer ewigen Wohlfahrt einlösen kann, je mehr die Globalisierung um sich greift, umso wichtiger wird sie.

Mehr über die politische Rolle der Kirche in der Berliner Asylpolitik im Berlinteil der Wochenendausgabe vom 21.12.2013

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.