Revolution in der Ukraine: Freilichtmuseum Maidan

Nach dem Umsturz wollen sich die Aktivisten in Kiew ihren Sieg nicht stehlen lassen. Aber was ist jetzt eigentlich noch zu tun?

Ein Priester gedenkt in der Nähe des Maidan der Toten. Bild: reuters

KIEW taz | Die Barrikaden vor den Seitenstraßen des Maidan sind nur noch mannshoch. Bei fast frühlingshaften Temperaturen ist der Schnee in ihnen zum größten Teil weggeschmolzen. Zurückgeblieben sind Autoreifen, Metallstäbe und Metallplatten. Doch genau wie in den vergangenen drei Monaten steigt auch an diesem Tag weißer Rauch aus den Holzöfen der olivgrünen Großzelte und hüllt den zwischen zwei Anhöhen gelegenen Unabhängigkeitsplatz in einen hellen Grauton.

Männer der „Kräfte der Selbstverteidigung des Maidan“ mit langen, dichten Schnurrbärten und rußgeschwärzten Händen patrouillieren in Kampfuniform den Kreschtschatik entlang – auf Kiews Flaniermeile, in dessen Zentrum der Maidan liegt.

Einige der Männer tragen im Gürtel deutlich sichtbar eine Pistole. Die Straße ist sauber, kaum ein Zigarettenstummel liegt auf dem gepflasterten Weg. Mancherorts sind große Areale von den Pflastersteinen befreit. Sorgfältig aufgeschichtet liegen diese jetzt in kleinen Türmchen auf dem Trottoir, damit sie im Falle eines Angriffs jederzeit verfügbar sind.

Fünf Tage nach seinem Sturz fehlt von dem einstigen Machthaber der Ukraine, Wladimir Janukowitsch, jede Spur. In seiner einstigen Hochburg Kiew hat sich vielfach die Stimmung gegen den Präsidenten gewandt.

Nach seiner Flucht am Samstag war Janukowitsch noch einmal im Fernsehen aufgetreten und hatte seine Absetzung durch das Parlament als "illegalen Putsch" faschistischer Oppositioneller bezeichnet. Dann hatte er versucht, mit einem Privatjet von Donezk nach Russland zu entkommen, doch wurde er dabei von Grenzbeamten aufgehalten, wie der neu eingesetzte Innenminister Arsen Awako mitteilte.

Daraufhin brauste Janukowitsch mit einigen bewaffneten Wachen in Richtung Krim davon und wurde nicht mehr gesehen.

Die Übergangsregierung hat am Dienstag den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aufgefordert, Janukowitsch und anderen Verantwortlichen den Prozess zu machen. (dpa)

Auf dem Maidan steht noch immer das Gerüst des Weihnachtsbaums. Dieses abzubauen, hatte man wirklich keine Zeit. Vom überlebensgroßen Plakat „Freiheit für Julia Timoschenko!“ sind dafür nur noch Reste übrig. Dessen Abriss dürfte nicht nur der Tatsache geschuldet sein, dass die Forderung nach Freilassung von Timoschenko inzwischen obsolet geworden ist. Die ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine sitzt längst nicht mehr im Gefängnis.

Mittlerweile wird der Hass auf die „korrupte Timoschenko“ größer. Zwei Männer schimpfen bei einem Plastikbecher Tee mit Zitrone über „Julia“ und die anderen Maidan-Führer. Der eine auf Russisch, der andere auf Ukrainisch. Die beiden Männer können es nicht fassen: Timoschenko-Tochter Ewgenija Timoschenko soll am 20. Februar ihren Geburtstag in Rom gefeiert haben. Das haben sie gehört.

Ungefähr zur selben Zeit, als die Demonstrierenden auf dem Maidan von den Scharfschützen des stürzenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch beschossen wurden. Mehr als 600 Euro soll die Nacht in der italienischen Absteige an der Piazza del Popolo kosten, ereifern sich die beiden.

Beamte verlassen das Land

Ein Redner auf der Bühne sucht Freiwillige. Angeblich sollen sich ehemalige hochrangige Janukowitsch-Beamte auf dem Weg zum Flughafen befinden. Es gelte, diese an einer Ausreise zu hindern. Sofort melden sich über ein Dutzend beherzter Männer und machen sich auf den Weg zum Flughafen Borispol.

Ansonsten ist die Stimmung gedrückt auf dem Platz. Nach den Adrenalinstößen vom Wochenende setzen nun die Depressionen ein. Vor den Barrikaden stehen Blumen und Fotos der knapp 100 Menschen, die während der Auseinandersetzungen getötet wurden.

Die Barrikaden sind durchlässig. In dem Meer aus Blumen wirken sie wie ein Freilichtmuseum eines längst vergangenen Aufstands. Auf der Flaniermeile haben die ersten Cafés wieder geöffnet. Doch sie sind weitgehend leer: 3 Euro für eine Tasse Kaffee kann sich bei Löhnen zwischen 200 und 300 Euro hier kaum jemand leisten.

Auch ein Sportgeschäft öffnet wieder seine Türen. Emsig wischen zwei Frauen die Schaufensterscheiben. Drei Tage nach dem ereignisreichen Samstag haben sich deutlich weniger Menschen auf dem Maidan eingefunden. Der verhasste Janukowitsch ist zwar in die Flucht geschlagen. Aber von Sieg will niemand etwas hören.

Aktivisten ohne Anführer

Stattdessen wird die Kluft zwischen den Maidan-Demonstranten und ihren vermeintlichen Anführern immer größer. Viele fühlen sich um ihren Sieg betrogen. Dass man sich im Tausch gegen den korrupten Janukowitsch nun mit Timoschenko herumschlagen muss, könne ja wohl nicht das ganze Ergebnis des Aufstands der letzten Monate sein, meinen sie.

„Timoschenko hat ihre Bereitschaft zum Gespräch mit Janukowitsch erklärt“, sagt ein Mann mit bösem Lachen. „Aber nur, wenn man ihr Janukowitsch in Ketten vorführe. – Man müsste die ganze Janukowitsch-Bande auf den Maidan bringen und hier öffentlich erschießen“, redet er einer kleinen Gruppe Männer aus der Westukraine zu, die seit Dezember auf diesem Platz ausharren. „Wir dürfen jetzt nicht auf halbem Wege stehen bleiben“, sagt er. „Die Partei der Regionen und die Kommunisten müssen sofort verboten werden. Sonst gehen sie zur Revanche über.“

Plötzlich nehmen die Männer, die vor einem der zahlreichen Stände der Essensausgabe warten, ihre Mützen und Helme ab und eine andächtige Haltung ein. Ukrainische Kosaken nähern sich der Gruppe. Die Kosaken tragen einen aufgebahrten Toten. Hinter dem Sarg gehen weinende Frauen. „Helden sterben nie“, rufen die Menschen den Kosaken zu. Spontan schließen sich einige Frauen dem Zug an.

Auf dem Gelände des Michailowskij-Klosters, auf einer Anhöhe, die 200 Meter vom Maidan entfernt ist, hatten sich Demonstranten im Schatten goldener Zwiebeltürme in den letzten Monaten ein Rückzugsgebiet eingerichtet. Jetzt werden ersten Buden und Zelte abgebaut. Wo noch vor Tagen ein reges Treiben herrschte, beladen heute Aktivisten die Anhänger ihrer Autos mit Zelten und Vorräten für den Abtransport. Kaum einer sucht das Gespräch.

Gefürchteter rechter Sektor

Die Zelte auf dem Maidan, alle geschmückt mit der gelb-blauen ukrainischen Flagge, werden überwiegend von Anhängern der Klitschko-Partei Udar und der Timoschenko-Partei Batkiwschtschyna bewohnt. Mehrere tausend Menschen besuchen noch den Unabhängigkeitsplatz, doch gerade einmal zwei Dutzend von ihnen sind als militante Aktivisten des Rechten Sektors zu erkennen. Da sie sich von allen anderen Gruppen abschotten, ist ihre tatsächliche Stärke schwer auszumachen. Allerdings sind sie mit geschätzten 200 Personen insgesamt wohl eher eine Minderheit unter den Maidan-Bewohnern. Sie werden von kaum jemandem auf dem Platz geliebt, aber von allen gefürchtet.

Der Rechte Sektor ist streng militärisch organisiert. Politische Gespräche mit Außenstehenden sind verboten. Ihre Stärken sind ihr hoher Organisationsgrad, eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit und ihre geschickte Verhandlungsführung bei der Aufteilung der Macht. Im Rechten Sektor hat man erkannt, dass in diesen Tagen die Weichen für die Machtkonstellationen der nächsten Jahre gestellt werden.

Während die meisten Maidan-Bewohner der Auffassung sind, dass der Rechte Sektor überproportional stark an der Macht beteiligt wird, sieht man sich dort eher in der Opferrolle: „Wir haben unseren Kopf hingehalten, als die Truppen des Innenministeriums den Maidan beschossen haben. Wir werden von Europa, Russland und unseren eigenen Mitstreitern gehasst. Wir werden bald wieder verfolgt werden“, begründet ein Mann vom Rechten Sektor, warum er sich immer noch nur maskiert auf den Maidan wagt.

„Die da oben verhandeln hinter geschlossenen Türen über ihre Posten und wir erfahren alles erst, wenn die Entscheidungen schon getroffen sind“, meint ein alkoholisierter Maidan-Kämpfer aus Kiew. Auch das hat sich verändert: Noch vor Tagen war streng darauf geachtet worden, dass auf dem Maidan kein Alkohol konsumiert wird. Wer erwischt wurde, wurde sofort mit Gewalt vom Platz geführt.

Das Vertrauen des Maidan

Dieser Mann kann wie viele andere hier nur erklären, welchen der Führer er nicht mag, weiß aber nicht, wem er die Regierungsverantwortung anvertrauen würde. Einigkeit herrscht nur in einer Frage: Man werde so lange auf dem Maidan bleiben, bis eine Regierung gewählt ist, die das Vertrauen des Maidan hat.

Doch wer auch immer in der Regierung sitzen wird – er wird es schwer haben. Die EU, die USA und Russland werden Druck auf die Regierenden ausüben. Manche Entscheidung, die auf diese Weise entsteht, wird den Maidan-Bewohnern gar nicht schmecken. Das ahnen sie heute schon.

So sind die Menschen auf dem Maidan ratlos. Sie wollen mit aller Macht etwas verändern. Aber sie wissen nicht mehr, was sie konkret verändern wollen. Seit dem Verschwinden von Janukowitsch fehlt das gemeinsame Feindbild. Und sie spüren, dass die wichtigsten Entscheidungen an ihnen vorbei getroffen werden.

Warum eigentlich noch auf dem Maidan stehen, während zu Hause die Familie wartet, fragen sich viele. Für die einen ist der Verbleib auf dem Platz wichtig, weil man nur so Druck auf die Politiker ausüben könne, die man verdächtigt, nur noch an guten Posten in einer Regierung interessiert zu sein. Andere meinen, man müsse jederzeit für einen Gegenschlag der Janukowitsch-Leute gewappnet sein. Den würden diese derzeit im Osten des Landes starten. Wieder andere stimmen mit den Füßen ab und reisen still und heimlich ab.

Die nächsten Konflikte sind programmiert. Sie werden wohl künftig zwischen denen ausgetragen, die heute noch einträchtig als Zeltnachbarn auf dem Maidan leben.

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