Katja Petrowskaja über Erinnerung: Ich hatte zwei Großmütter

In „Vielleicht Esther“ gräbt Katja Petrowskaja nach flüchtigen Erinnerungen. Sie fragt nach der Sprache, welche die Überlieferung spricht.

Ausgezeichnet: Katja Petrowskaja hat 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Bild: dpa

Wer wissen möchte, wer er ist, muss die familiäre Überlieferung befragen, in der sich allerdings oft rätselhafte Lücken auftun. Katja Petrowskaja hätte keinen besseren Titel für ihr Ringen mit der Überlieferung finden können als „Vielleicht Esther“. So nennt die Autorin ihre Urgroßmutter, weil ihr Vater sich im ersten Moment gar nicht an den Vornamen der Frau erinnern kann, die man in der Familie nur Babuschka rief: „Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.“

„Vielleicht Esther“ ist so auch eine Chiffre für den immer prekären Status, den das Überlieferte gegenüber der Idee einer zu erstrebenden historischen Wahrheit einnimmt. Überliefern heißt immer auch vergessen, auslassen, beschönigen. Die stille Post der Erinnerung akkumuliert Fehler, während sie Einzelheiten gern mal zugunsten einer Pointe vergisst.

„Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche“, schreibt Katja Petrowskaja im Wissen darüber, dass diese Idee naiv, aber notwendig war, um die Reise beginnen zu können.

Ihr Buch handelt davon, wie Überlieferung stattfindet, welche Sprache sie spricht und was sie für die Existenz der Erzählerin bedeutet. Daher handelt es sich bei „Vielleicht Esther“ um Literatur im besten Sinn, auch wenn nichts an Petrowskajas Geschichten fiktiv ist.

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Sie werden von einem wiederkehrenden Gefühl des Mädchens angestoßen, das die Autorin einmal war: „Das Gefühl des Verlustes trat ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröhliche Welt, es schwebte über mir, streckte seine Flügel aus, ich kriegte keine Luft und kein Licht, wegen eines Mangels, den es vielleicht nicht gab.“ Nun soll das Graben in flüchtigen Erinnerungen, soll die Recherche an befremdlichen Orten wie Mauthausen die Lücken in der familiären Überlieferung schließen.

Taubstummenlehrer und Kommunisten

Einige der Vorfahren Katja Petrowskajas waren Taubstummenlehrer. Einer war ein Attentäter. Viele wurden von den Nazis ermordet, während des Kriegs, den Katja Petrowskaja als ihre und vielleicht auch unsere Antike begreift.

Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren, 1999 zog sie mit ihrem deutschen Mann nach Berlin. Katja Petrowskaja – was für ein urrussischer Name. Im niederen orthodoxen Klerus kommt er oft vor. Die Familie trägt ihn, seit Katjas Großvater Schimon Stern als Kommunist im revolutionären Untergrund den Decknamen Semjon Petrowskij angenommen hat.

Semjons Bruder Jeguda Stern schoss am 5. März 1932 mitten in Moskau auf den deutschen Botschaftsrat Fritz von Twardowski. Ein sowjetisches Gericht verurteilte ihn zum Tod, danach wurde die Erinnerung an ihn in der Familie zu gefährlich. Erst spät wird wieder über ihn gesprochen, sein Bruder Semjon hält ihn für einen Meschuggenen. Es ist das einzige jiddische Wort, das in der Sprache der Familie verblieben ist, was Katja Petrowskaja zu der Frage bringt: „Ist die Verrücktheit meine letzte Verbindung mit dem Judentum?“

Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“. Suhrkamp, Berlin 2014, 285 Seiten, 19,95 Euro

Zu neuen Menschen wollten viele der osteuropäischen Juden werden, um den Obskurantismus und das Elend ihrer Vorfahren hinter sich lassen, sie wollten keine vom Partikulären gezeichneten Menschen mehr sein. Ein neuer Name ist der erste Schritt zur Neuerfindung. Damit ist es jedoch schnell wieder vorbei, als Anschläge der deutschen Besatzer in Kiew „saemtliche Juden“ auffordern, sich an Sammelpunkten einzufinden.

Die richtige und die falsche Seite

Vielleicht Esther fühlt sich verpflichtet, die Treppen ihres Hauses hinunterzusteigen, obwohl sie kaum gehen kann. Im August 1941 ist ihre Familie vor der Wehrmacht aus Kiew geflohen. Esther musste bleiben, weil die Fahrt auf der Ladefläche eines Transporters viel zu anstrengend für sie gewesen wäre.

Nun aber rufen die Besatzer, denen Esther mehr traut als den Ukrainern, und so schleppt sich Katja Petrowskajas Urgroßmutter die Straße hinunter, die nach Friedrich Engels benannt ist. Vor der Revolution hat sie den Namen Luthers getragen.

„Wenn Kain Abel getötet hat und Abel keine Kinder hatte, wer sind dann wir?“, fragt sich Katja Petrowskaja, weil sie Angst hat, dass die Schlechtesten überlebt haben könnten. Womöglich hat der eigene Großvater die Herrschaft Stalins nur überstanden, weil er damals auf der richtigen Seite war, also von heute aus betrachtet auf der falschen, das ist zumindest der Verdacht, den die Enkelin formuliert.

Petrowskajas „Wir“ erstreckt sich so nicht nur auf die eigene Familie, es transzendiert die Kategorien, die das 20. Jahrhundert auf die Körper gestanzt hat. Wir, das sind am Ende nicht Deutsche, Juden, Nazis, Kommunisten, Ukrainer, Sowjets, Autochthone, Exilanten, sondern wir alle als Nachfahren Kains.

Das ist kein Relativismus, keine Nivellierung der Toten und der Taten, denn nichts soll vergessen werden, das ist der Sinn jeder Überlieferung. Nur der Einzelne kann einem Verbrechen zum Opfer fallen, nur der Einzelne kann schuldig werden. Um das Gefühl des Mangels, des Verlusts überwinden zu können, das in der Familie als Echo der Gewalt weitergetragen wird, muss die Überlieferung wiederhergestellt werden. Katja Petrowskaja tut das in ihrem beispielhaften Buch, das von den Verheerungen des 20. Jahrhunderts erzählt, die in seinen Enkeln weiterleben.

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