Spiele im Internet: Digitale Parallelgesellschaft

Gemeinsam schlägt man Monster besser: In Online-Rollenspielen müssen User nicht nur kämpfen, sondern sich auch vergesellschaften.

So sieht sie in echt aus, die Sozialität der Online-Rollenspieler Bild: dpa

Tiefstes Mittelalter, man schreibt das Jahr „2A 578“, wir sitzen in einem Kerker fest. In dem unterirdischen Verlies, das den Computerbildschirm verdunkelt, wimmelt es von bösartigen Skeletten, die munter auf einen eindreschen, kommt man ihnen zu nahe. Neben Folterinstrumenten und umherstehenden Öfen lodern Schatten an den Wänden des garstigen Bergwerks.

Bald ist klar, dass sich unser Kerker im Jenseits befinden muss, denn in unserer kargen Zelle taucht alsbald ein bläulich leuchtender Typ auf, der sich als „Prophet“ outet und die Zellentür mit einem magischen Handstreich entriegelt. Wir nehmen also die eigene, arg mitgenommene Seele in die Hand und fliehen.

Wir müssen zurück ins Diesseits dieser Geschichte. Zurück in eine vorzeitliche Welt, die den Namen Tamriel trägt. Auf dem makellos verpixelten Fantasy-Kontinent greift der dämonische Unterweltfürst Molag Bal nach der Macht, und wir müssen ihn aufhalten.

Diese Anfangssequenz erleben alle, die seit Anfang April zu der wachsenden Spielergemeinde von „The Elder Scrolls Online“ (ESO) gehören. ESO ist ein „Massive Multiplayer Online Role-Playing Game“, ein MMORPG, ein Spiel, an dem viele gleichzeitig von ihren Rechnern aus mitspielen können.

„The Elder Scrolls Online“. Bethesda Softworks, PC/Mac

Literaturquellen: Georg Simmel: „Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen“.

Langeweile wäre tödlich

Der bekannteste Vertreter des Genres ist das 2004 erstmals in den USA veröffentlichte „World of Warcraft“ (WoW). Zu Stoßzeiten tummelten sich in den von der US-Softwarefirma Blizzard Entertainment entwickelten Interaktions-Panoramen weit über 10 Millionen SpielerInnen, weltweit.

2006 hatte „World of Warcraft“ bereits einen Jahresumsatz von einer Milliarde US-Dollar erwirtschaftet, schrieb damals die New York Times. Denn: Jeder, der zocken wollte, musste auch gleichzeitig ein Abo für das Spiel buchen.

Bei beliebten, Browser-basierten Rollenspielen liegen die Preise meist zwischen 10 bis 20 Euro monatlich. Bei ESO sind es rund 13 Euro. Die Gebühr dient der Pflege und ständigen Weiterentwicklung der virtuellen Landschaft. Langeweile beim User wäre tödlich für das lukrative Geschäftsmodell.

Dass MMORPG-Welten bei einer zu hohen Identifikation mit dem Spiel und dem eigenen Charakter – gerade bei Heranwachsenden – die oft zitierte „Onlinesucht“ nach sich ziehen kann, ist mittlerweile unstrittig. Genauso unstrittig ist, dass nicht nur eine Generation zockt: Von der Studentin bis zum Rentner sind Vertreter sämtlicher Altersgruppen in den grafisch immer komplexer ausdefinierten Pixelparks unterwegs – täglich, stundenlang, pausenlos.

Geselligkeitstriebe der Menschen

Dass das fortwährende Leben in der Simulation die reale soziale Isolation fördert, ist zu kurz gedacht. Denn die Simulation, das Online-Rollenspiel selbst, basiert auf klaren Sozialstrukturen. Sie schließt im Digitalen nicht nur aktiv das ein, was der Berliner Soziologe Georg Simmel (1858–1918) als „Geselligkeitstriebe der Menschen“ definierte, sondern nutzt diese spielerisch.

Es sind „Impulse und Interessen, die der Mensch in sich vorfindet und die ihn über sich hinaus zum andern drängen, all die Vereinigungsformen, durch die aus einer bloßen Anzahl neben einander bestehender Wesen jedes Mal eine Gesellschaft wird“. Sicher, so Simmel, sei es der Erfolg spezieller „Notwendigkeiten und Interessen, wenn die Menschen sich in Wirtschaftsvereinigungen oder Blutsbrüderschaften, in Kultgenossenschaften oder Räuberbanden zusammentun.“

Härtere Strafen, Internetzensur, Adoptionsverbot für Homo-Paare – mit dem Argument, es gehe um das Wohl der Kinder, wird Politik gemacht. Aber wie ernst wird das Kindeswohl wirklich genommen? taz.am wochenende vom 3./4. Mai 2014 . Außerdem ein Porträt Sigmar Gabriels. Der Wirtschaftsminister setzt das Werk Peter Altmaiers fort und erdrosselt langsam die Energiewende am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

All jene Beispiele einer mit eigenen Regeln versehenen Gemeinschaft findet man fast wortgleich in „The Elder Scrolls Online“. Der Begriff, unter dem diese bei MMORPGs firmieren, ist der der „Gilde“. Spielergruppen schließen sich zusammen, um die Aufgaben („Quests“) entlang der Haupthandlung, die sich die Entwickler für die SpielerInnen ausgedacht haben, leichter zu bewältigen.

Computergenerierte, mit massig Lebensenergie versehene und vernichtende Schläge austeilende Gegner – ob nun Zombie oder Riesenspinne – lassen sich leichter besiegen, wenn man nicht allein unterwegs ist. Jeder Kampf bringt allen im Gilde-Team Erfahrungspunkte. Die Einzelcharaktere, für die in ESO neun Rassen – etwa Menschen, Elfen oder Orks – zur Verfügung stehen, mit unterschiedlichsten Fähigkeiten, ob nun Magier- oder Kriegertalent, werden in und dank der Gruppe stärker.

Der Krieg ist hier Vater aller Dinge

Der narrativen Logik des Spiels folgend, ist hier der Krieg wirklich der Vater aller Dinge. Wenngleich man sich im Spiel fern des Kampfes durchaus auf ökonomische Interessen wie die Herstellung von Rüstungen, Waffen und Zaubertränken beschränken kann, um damit zu handeln und um möglichst viel Gold zu horten.

Auf den deutschen ESO-Fansites im Netz finden sich umfangreiche Listen solcher „Gilden“. Bei einer heißt es: „Bei uns steht die Gemeinschaft an erster Stelle, man kann Geselligkeit in einer persönlichen Atmosphäre erleben. Dies ist unser wichtigstes Ziel innerhalb der Gilde.“ Simmel reloaded: „Von den soziologischen Kategorien her betrachtet, bezeichne ich also die Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung“, heißt es in dem 1911 veröffentlichten Aufsatz „Soziologie und Geselligkeit“.

Die „großen formalen Motive“ des gemeinschaftlichen Spiels sind „das Jagen und Erlisten, die Bewährung der physischen und der geistigen Kraft, den Wettbewerb und das Gestelltsein auf die Chance und die Gunst der unbeeinflussbaren Lebensmächte“. Sie finden sich in nahezu jedem MMORPG.

Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft oder „The Elder Scrolls Online“ basieren auf einer im Spiel ungeheuer dynamischen Gemeinschaft, der jedoch ein Gesellschaftssystem feudaler Natur zugrunde liegt. Unendlich viele erlebbare Legenden erstrecken sich über König- und Kaiserreiche. Eine Welt, die in ihrer politischen Fragilität und ihren mannigfaltigen Existenzkämpfen in eine spielerische Grauzone mündet, welche von Gut und Böse gleichermaßen genährt wird.

Eine Welt, die den aus dem 21. Jahrhundert anreisenden Spielern dennoch als erlebbare Metapher heimisch erscheint. Oder wie es Simmel formuliert: Das Spiel gewinnt „seine Heiterkeit, aber auch jene symbolische Bedeutsamkeit, die es vom bloßen Spaß unterscheidet“.

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