Neues Buch von Alain Finkielkraut: Die zerquetschte Identität

Frankreich debattiert mit dem Kulturpessimisten über den alten Geist der Nation. Mit seinem neuen Werk nähert er sich den Parolen des Front National.

Vertreter der Nouvelle Philosphie: Alain Finkielkraut. Bild: imago/ PanoramiC

Der 1949 geborene Philosoph Alain Finkielkraut gehört mit Bernard-Henri Lévy zu jener Handvoll französischer Medienintellektuellen, die das Publikum seit etwa 30 Jahren mit wenigstens einem Buch pro Jahr beglücken. Es ist ruhiger geworden um diese Leute, weil sich das Publikum für deren Eitelkeitspirouetten nicht mehr so interessiert wie früher.

Lévy ist deshalb vom Bücherschreiben auf Frontalinterventionen im Fernsehen umgestiegen und fordert nun live von den Kriegs- und Bürgerkriegsschauplätzen aus – aus Libyen, Ägypten, Syrien und der Ukraine – das ultimative Eingreifen der westlichen Staaten.

Alain Finkielkraut dagegen ist, wenn man von seinen Beiträgen für Radio France Culture und für Radio Communautaire Juive (RCJ) absieht, beim Bücherschreiben geblieben und landete zuletzt mit „L’identité malheureuse“ (Die unglückliche Identität) einen Bestseller, über den seit Monaten in allen Medien debattiert wird.

Finkielkraut fängt moderat an mit der These, als er geboren worden sei, wäre „die Geschichte noch Trägerin von Sinn gewesen“. Mit diesem Pathos ziemlich alter Geschichts- und Lateinlehrer hat es jedoch ein schnelles Ende. Finkielkraut wechselt ins Fach des konservativen Kulturpessimisten: Heute ist alles „käuflich“ – auch Bäuche von Leihmüttern; „Werbung“ dirigiert in Radio und Fernsehen das Programm, „Politik“ reduziert sich auf „Wachstum“. Ergo: „Wir sind vereinnahmt worden.“

Alain Finkielkraut: „L’identité malheureuse“. Éditions Stock, Paris 2013, 229 Seiten, 22,50 Euro

Akademische Dekoration

Worum es sich bei diesem „Wir“ handelt, wird zunächst nicht deutlich. Doch bald stellt sich heraus, dass damit „die“ Franzosen gemeint sind. Da Finkielkraut – gegen alle empirische Evidenz – davon ausgeht, Frankreich sei um 1972 „noch eine homogene Nation“ gewesen, kommen als Gegner dieses „Wir“ nur jene in Frage, die später hinzukamen: die Einwanderer. In dem Maße, wie „Europa zum Einwanderungskontinent verkam“, wurden aus Citoyens „Arbeiter-Konsumenten“. Damit war der Weg frei zum Umbau der Kulturnation in ein Land von Unterhaltungsindustrie, Sportevents, Jeans, Sodawasser, Kopftüchern, Hosen tragenden Frauen („désexualisation“), Pluralismus, Flegelhaftigkeit („muflerie“) und Gleichmacherei.

Freunde übernehmen heute Aufgaben, um die sich lange die Familie gekümmert hat. Aber bleiben sie auch, wenn es unangenehm wird? Einen Essay dazu lesen Sie in der taz.am wochenende vom 10./11. Mai 2014 . Außerdem ein Gespräch mit Manfred Stolpe. Er war Verkehrsminister, als er an Krebs erkrankt ist. Heute geht es ihm besser, als in manchen Zeitungen steht, sagt er. Und: Warum es exzentrisch ist, normal zu sein. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Damit nähert sich der konservative Kulturkritiker den Parolen der radikalen Rechten des Front National. Aber als Intellektueller geht Finkielkraut einen Schritt weiter, indem er den ordinären Nationalismus und Chauvinismus der Rechtsradikalen akademisch dekoriert. Finkielkrauts „Wir“, das heißt „die“ Franzosen, „fühlen sich nicht mehr bei sich selbst“, sie verlieren ihre „identité commune“, weil sie einem permanenten Prozess der „Entidentifizierung“ (désidentification) unterworfen sind.

Wie bei den notorischen Reaktionären und Gegnern von Liberté, Égalité und Fraternité von Edmund Burke über Joseph de Maistre bis zu Maurice Barrès gibt es auch für Finkielkraut keine Menschenrechte, sondern nur „vererbte Gesetze“, keine Menschen, sondern nur Franzosen, Italiener, Russen und andere Fremde. Kurz: „Es gibt keine auf alle Menschen anwendbare Regel“ (Finkielkraut). Und als ob der Zufall des Geburtsorts für irgendetwas bürgte, spricht er von „Abstammungslegitimität“.

Trübe Einsichten

Zwar sieht er die Gefahren „gemeinsamer Identität“ – „die Dämonen der Identität“ –, aber er beschäftigt sich nicht mit den Mystifikationen von Blut, Boden, Herkunft und Nationalität, sondern relativiert jene Gefahren mit Hinweis, es gebe auch „Dämonen des Universellen“. Finkielkraut erläutert seine trüben Einsichten gern mit Beispielen aus der Schulpolitik.

Gleichsam als deren Sündenfall betrachtet er den Rückzug eines Gesetzes, mit dem im Jahr 2005 „die positive Rolle der französischen Präsenz“ in Übersee – besonders auch in Afrika – festgeschrieben werden sollte. Resignierend stellt er dazu fest: „Frankreich füllt nicht mehr das Bild, sondern wird zum Rahmen.“ Aus der Nation werde eine „auberge espagnole“, eine primitive Unterkunft, und „die Franzosen“ fühlten sich wegen der Einwanderer „fremd auf ihrem eigenem Boden“, was man auch daran ablesen könne, dass man heute weder Russe noch Italiener sein müsse, um sein eigenes Kind Dimitri oder Matteo zu nennen. Finkielkrauts Eltern, Einwanderer aus Polen, tauften den Sohn Alain?

Finkielkraut bläst mit rhetorischen Fragen Öl ins Feuer identitätspolitisch angeheizter Konflikte: „Wir sind der Andere des Anderen. Und hat dieser Andere nicht das Recht, zu sein und sein Sein zu bewahren“ sowie „die Auslöschung seines Gesichts“ zu verhindern?

Konservative Lebkuchenreserve

Der Autor fragt nur, um die Selbstverständlichkeit der Antwort mit einem Alarmruf zu versehen: „Wir machen die Entdeckung unseres Seins unter dem Schock der Pluralität“, – so als ob sich Frankreich und Franzosen, mit aller Selbstgewissheit, mit der sie sich seit Jahrhunderten zu Recht und zu Unrecht inszenieren, eben erst entdecken würden.

Mit düsteren Prophezeiungen dramatisiert Finkielkraut die Lage. „Die Welt“ der Montaigne, Pascal, Voltaire und Rousseau ist „verschwunden“, „Gegenwärtigkeit und Interaktivität der neuen Medien haben die nationale Identität zerquetscht“. Wo „früher Literatur“ war, gibt es heute „Computer, Mails und Informationen“ anstelle des „alten Geistes der Nation“.

Rettung steht nicht in Aussicht, allenfalls konservative Lebkuchenverse: „Zurück zu den Quellen“ und „Bewundern kommt vor dem Begreifen“. Gelegentlich scheut der Autor auch das Kostüm einer viktorianischen Gouvernante nicht – etwa wenn er beklagt, von den Wetterberichten bis zu den Filmuntertiteln erobere „das Wort Scheiße alles“. Wirklich alles? Auch Identitätsbeschwörer? Kürzlich erfolgte die Wahl Finkielkrauts in den Kreis der „Unsterblichen“ der Académie française.

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