Essay zum Vergessen: Vergiss mich!

Das EuGH-Urteil geht nicht weit genug. Wir brauchen jetzt ein Grundrecht auf Vergessen. Nicht nur im Netz, sondern auch in der analogen Welt.

Geburtstag vergessen? Macht doch nichts. Bild: Nerd1/photocase

Vergessen kann etwas Gutes sein. Oder etwas Schlechtes. Zum schlechten Vergessen gehört es, die Herdplatte anzulassen, Geburtstage zu vergessen, zu vergessen, wo man herkommt, wem man was zu verdanken hat, wer ein Arschloch ist und wie Armut oder Hunger schmeckt. Negativ ist auch das kollektive Vergessen der kollektiven Schuld, des kollektiven Gewissens, der kollektiven Erinnerung. Es gibt Altersdemenz und Alzheimer – das Vergessen als Krankheit.

Doch Vergessen – und mit ihm das Vergessenwerden – kann auch eine kulturelle Errungenschaft sein, die zu Recht institutionell geschützt gehört. Vergessen als Gnade, das versöhnliche Angebot „Schwamm drüber, vergessen wir es“. Es gibt das Vergessen als Technik, um schmerzliche Erinnerungen auszulöschen. Oder schlicht Kreditkartennummern: Hat man die alte Karte verloren, empfiehlt sich vor Erhalt der neuen PIN das Leeren der Festplatte im Kopf mittels einer Flasche Wodka und schon ist Raum für die neue Geheimzahl.

Wichtig ist auch das Vergessen in der Kunst, das kreativen Raum für Neues schafft. „Text vergessen, scheißegal“, ist nicht umsonst eine der am häufigsten gehörten Zeilen auf deutschen Bühnen. Dann wird eben improvisiert, so entstehen völlig neue Chancen.

Das Vergessen ist ein Staubsauger im Kopf. Sind die Ecken voll mit altem Dreck: Möööpp! Einfach vergessen und alles ist sauber. Eine alte Liebe, ein halbes Kamel, das noch immer im Hirn rumspukt: Mööpp! Einfach vergessen und alles ist gut.

Verwackelte Bilder

Im Internet kann das Vergessen dank des Urteils des Europäischen Gerichtshofs endlich leichter werden. Denn wir können den Spanier, dessen Fall dort verhandelt wurde, gut verstehen. Wem geht es nicht so? „Auf dem Bild siehst du total alt und fett aus“, sagte erst vorgestern eine Bekannte, die nach einem Pressefoto von mir suchte.

Jede Privatperson lässt sich per Suchmaschine im Netz aufspüren: Mal findet sich ein betrunkener Facebook-Kommentar vom 03.05.2011 um 3 Uhr 44, „di fick iluminaten von bagdat halten unsere treume in einme teich aus laserwolle gefangne, um sie gegne blaubeerne einzudauschen heil sarrazin“. Oder ein zum Glück verwackeltes Bild, auf dem man in der vorderen Hälfte eines Kamelkostüms steckt, woran man ungern erinnert werden möchte. Weil man sich an dem Tag krankgemeldet hatte, weil im hinteren Teil die große Liebe steckte, die direkt nach dem Faschingsball die Grätsche machte, oder weil man als Richter am Europäischen Gerichtshof jobbt. Und wie sieht das denn aus?

Doch leider gibt es ja nicht nur das Internet, sondern nach wie vor auch analoge Gedächtnisse. Da sitzen doch tatsächlich noch im Jahre 2014 irgendwelche Biofreaks in ihren Buden und erinnern sich in analoger Denkarbeit an peinliche Geschichten, an denen natürlich sehr viel öfter andere als sie selbst beteiligt waren.

Grübeln statt Googeln

Grübeln statt Googeln, voll so mit dem eigenen Kopf, also mit so Synapsen aus Wurstwasser anstatt Glasfasertechnik, diese Steinzeittechnik ist nicht totzukriegen. Dann erzählen sie den Gossip auch noch weiter, er geht von Mund zu Mund – noch so eine Old-School-Scheißmethode, die erschreckend gut funktioniert.

Es gibt eine Reihe sehr schwerer Verbrechen, die Verjährungsfristen haben. Dass ich aber damals das und das gemacht, gesagt, unterlassen, nicht unterlassen habe, wird mir diese NSA für Arme noch ewig aufs Brot schmieren und steht wahrscheinlich noch auf meinem Grabstein. Und zwar gleich auf der ersten Seite der Ergebnisliste, so wie bei diesem Kläger aus Spanien.

Das ist ungerecht. Wo bleibt da der Europäische Gerichtshof, wo der Datenschutz? Wir fordern das Grundrecht auf Vergessen auch im analogen Bereich. Praktisch bewerkstelligen ließe sich das in etwa so wie beim Thema Kartennummern angerissen.

Wenn ich nach meinen Namen plus „Arschloch“ google, wird übrigens dank meiner häufigen Verwendung des Wortes auf den ersten Seiten nur auf meine eigenen Texte verwiesen und nicht auf meine eigene Person. Ein geiler Schutz, den ich jedem nur empfehlen kann. Bei der Kombination mit „Idiot“ lande ich hingegen relativ bald auf Links mit Leserkommentaren. Doch wer regelmäßig nach sich selber googelt, onaniert auch vor dem Spiegel. Von der einen wie der anderen Praxis halte ich mich in Zukunft lieber wieder fern. Das glücklichste Tier ist immer noch der Vogel Strauß.

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