Linken-Politikerin Wagenknecht: Sahra und die Wörter

Durch die Lektüre von Hegel und Marx hat die Linke früh unangreifbare Gewissheiten erlangt. Ihrem Job als Politikerin steht das im Weg.

Sahra Wagenknecht: Manchmal scheint ein Teil von ihr der Welt abhandengekommen. Bild: imago/Viadata

„Wohlstand und Freiheit“ steht in großen Lettern hinter ihr, vor ihr sitzt ein handverlesenes, überwiegend männliches Publikum in überwiegend teuren, überwiegend schlecht sitzenden Anzügen. Eine große deutsche Personalberatung hat zu einem Event geladen. Klaus von Dohnanyi wird Sahra Wagenknechts Kontrahent im anschließenden Streitgespräch über die Zukunft der Marktwirtschaft sein.

Noch aber redet die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken. Sie spricht frei, ohne Manuskript, eine knappe Dreiviertelstunde ohne einen Versprecher; man ist schon erstaunt, wenn sie ihre Rede manchmal für Sekundenbruchteile stoppt, um nach der angemessenen Formulierung zu suchen. Und doch wäre es falsch, ihren Auftritt wortgewaltig zu nennen. Nicht nur, weil die Vortragende bei aller Souveränität ein bisschen gehemmt wirkt.

Verständlich, spricht sie doch wieder einmal in Feindesland. Ihr Publikum gehört zum Umfeld derer, die nach ihrem politischen Willen zur Kasse gebeten werden sollen. Sie sagt es beredt, nicht wortgewaltig. Wer ihr genau zuhört, merkt: Die Wörter sind ihre Freunde. Sie stellen sich ihr zwanglos zur Verfügung.

Mit Wörtern umzugehen ist Sahra Wagenknechts Leben. Irgendetwas davon scheint auch das Publikum zu merken, denn neben Ablehnung spiegelt sich in manchen Gesichtern ein überraschtes Staunen. Vielleicht ist es auch nur die Überraschung über die Diskrepanz zwischen Auftritt und Aussage: Wagenknechts wirtschaftspolitische Botschaft hat in diesem Milieu dieselbe Attraktivität wie ein Aufruf zum Komasaufen bei den Guttemplern. Ihre Ausstrahlung indes ist durch und durch bürgerlich, man könnte sie sich gut als Chefin eines DAX-Unternehmens vorstellen. Dazu passt eine gewisse Aura von Unnahbarkeit.

Im Kinderpostamt

Als ich sie zwei Stunden vor diesem Auftritt zum Interview begrüße, scheint alles ganz anders. Ich begegne einer aufmerksam zugewandten Frau. Wagenknecht spricht in fast vertraulichem Ton, selbst das leicht skurrile Ambiente – wir sitzen im „Kinderpostamt“ des Frankfurter Museums für Kommunikation – scheint sie nicht zu stören. Vermutlich wäre ihr auch ein Freibad oder eine Kirche recht.

Sobald Sprache ins Spiel kommt, wenn die Wörter hin- und herwandern, scheint um sie herum alles andere in Gleichgültigkeit zu versinken. Das erste Gefühl, das sich mir beim Zuhören einstellt, ist das einer verwirrenden Ortlosigkeit. Dabei ist der Kontakt gut, ich bin überrascht von Wagenknechts kommunikativer Offenheit.

Schließlich ist sie ein medial gebranntes Kind. Zu Beginn ihrer politischen Karriere hat sie durch peinliche Stellungnahmen zur DDR, dem Mauerbau und der Bedeutung Stalins für negative Schlagzeilen gesorgt. Da habe, sagt sie, Trotz eine Rolle gespielt: Als alle Welt nur noch das Schlechte der DDR sah – darunter viele, die gestern noch mit Überzeugung das Hammer-und-Zirkel-Banner schwangen – habe sie sich bewusst dagegengestellt. Bedauern will sie es nicht, schließlich habe sie das damals so gesagt und gemeint. Nur sei sie heute nicht mehr derselben Meinung.

Ich stutze über diese Art der Konsequenz. Trotz und Konsequenz sind lebensgeschichtlich nur in der Adoleszenz identisch. Meine Gesprächspartnerin scheint diese Melange indes schon früh gepflegt zu haben: Bereits als Zweijährige weigert sie sich, in den Kinderhort zu gehen – bis ihre Mutter klein beigibt. Sie konnte, sagt sie, ein „kleiner Terrorist“ sein, wenn etwas gegen ihren Willen ging.

Bald darauf hat die Nachwuchsterroristin zudem den Vater als Bezugsperson verloren. Der iranische Mann ihrer Mutter, der als Westberliner Student ohnehin nur sporadisch anwesend war, muss in seine Heimat zurück – es wird eine endgültige Trennung. Wagenknecht hat eine klare Erinnerung an diesen „schmerzhaften Einschnitt“. Auch das klingt sachlich, doch etwas von der vernarbten Trauer ist spürbar.

Die Hochbegabte

Vor mir ersteht das Bild einer eigensinnigen Dreijährigen, die Verlust und Unglück durch eine selbst geschaffene Welt zu kompensieren sucht. Rasch findet sie jene hilfreichen Freunde, die ihr treu geblieben sind: Mit vier Jahren lernt Sahra die Wörter kennen. Sie bringt sich selbst das Lesen bei. Sie bleibt, was Freundschaften angeht, ein einsames Kind. Aber sie ist nie mehr allein, es gibt ja die Welt der Wörter, die Freunde in Gestalt von Büchern und Geschichten.

Bald kommt ein Faible für Mathematik, Zahlenrätsel und knifflige Logeleien hinzu. Sahra ist hochbegabt, sie hat Züge eines Savant – eben auch in jener autistischen Tendenz, die zum Untergrund ihrer Lebenskonsequenz gehört und heute in der Aura der Unnahbarkeit ein Nachleben hat. Sahra Wagenknecht verbringt einen großen Teil ihres Lebens in jenem selbst geschaffenen Schutzraum, den außer ihr niemand kennt.

Als Jugendliche treibt sie die Liebe zu ihnen auf die Spitze. Sie verschlingt, was sie liebt, 15 Lektürestunden am Tag sind keine Seltenheit. Lange stehen Goethe und die deutsche Klassik im Mittelpunkt. Etwas verlegen kommt das Geständnis, dass sie damals schon eigene Texte in die Welt gesetzt hat. Gedichte, vor allem aber Dramenentwürfe: historisch kostümierte Kritiken der DDR-Realität, mit der die Jugendliche immer wieder kollidiert. Etwa bei der obligatorischen vormilitärischen Ausbildung: Sechs Mädchen auf einem Zimmer, Waffenkunde und ein Alltag im Gleichschritt.

Über „Faust“ zu Marx und Hegel

Sie empfindet es als tiefe Demütigung, dekompensiert, kann nicht mehr essen. Es wird als Hungerstreik ausgelegt – mit der Konsequenz, dass ihr der Zutritt zur Universität verweigert wird. Bitter, denn unterdessen hat sich ihr Freundeskreis erweitert: Sahra Wagenknecht durchstöbert längst das Feld der Theorie. Später wird sie sagen, dass es der „Faust“, dieses „durch und durch antikapitalistische Buch“ war, das ihr den Weg zu Karl Marx gebahnt hat. Davor standen Aristoteles, Spinoza, Kant – und vor allem Hegel.

Wer etwas von Wagenknechts Charakter und der Konsequenz ihres Handelns verstehen will, sollte die Geschichte ihres Zugangs zu Hegels Denken kennen. Ohne Anleitung wählte sie, ganz auf sich allein gestellt, als Einstieg ausgerechnet die Logik! Wer jemals Hegel gelesen hat, kennt die Komplexität und Schwierigkeit seiner Philosophie. Die zweibändige Logik aber ist ein Ausbund an Unverständlichkeit.

Sahra arbeitet sich durch die knapp 1.000 Seiten – ohne zu verstehen, wie sie sagt, aber auch ohne abzubrechen. Wie geht das? Sie versteht meine Fassungslosigkeit nicht. Irgendwas sei doch immer dabei, an das man anknüpfen könne. Sie besorgte sich Sekundärliteratur, kämpfte sich durch die Hegel-Gesamtausgabe – und las die Logik noch einmal.

Humaner Sozialismus

Beeindruckend die Konsequenz, der Fleiß und Ehrgeiz – und die dem Ganzen innewohnende Abstraktion. Es ist das Zusammenspiel dieser Elemente, das ihr Handeln prägt. Und immer scheint letztlich die Abstraktion die Oberhand zu behalten. Wagenknechts Option für einen humanen Sozialismus ist nachvollziehbar von ethischen Beweggründen geprägt. Der Schritt zur praktischen Politik bleibt indes rätselhaft. Sie versteht ihn als logische Konsequenz der Marx’schen Theorie.

Gewiss, sie will ein „gutes Leben für alle“, zeigt sich zutiefst gerührt vom unverschuldeten sozialen Absturz, den sie nicht nur aus ihrer Sprechstunde oder den Medien, sondern aus ihrem persönlichen Umfeld kennt; die Empörung über die Demütigung, die „das System“ breiten Schichten zumute, ist so genuin wie die Wut darüber, was viel zu viele widerspruchslos hinnehmen.

Aber all dies erscheint, wenn sie darüber spricht, wie Nachrichten aus einer anderen Welt: Lebendiges inmitten der Eiswüste der Abstraktionen, die ihre eigentliche Heimat ist. In ihr ruht die unfehlbare theoretische Gewissheit des Marxismus, die sich wie eine Folie über das reale Leben legt. Es hat einen selbstgenügsamen, abstrakten, ja autistischen Zug – wie alles zweifelsfreie Denken.

Nicht von dieser Welt

Keine Frage, Sahra Wagenknecht kann sehr handfest sein, realistisch, durchsetzungsfähig – auch ihre Parteifreunde kennen diese Seite von ihr. Aber sie ist, so seltsam das klingt, nicht eigentlich von dieser Welt. Was ich als Ortlosigkeit erlebe, ist wohl ihr genuiner Schutzraum, in den sie sich – so wirkt es – nicht immer nur freiwillig zurückzieht. Wann immer die kluge Marxistin aus dem Geist der unangreifbaren Gewissheit redet, scheint ein Teil von ihr der Welt abhandengekommen. Auch ihre Freunde, die Wörter, verlieren dann an Lebendigkeit. Möglicherweise weiß sie darum.

Auf meine Frage, warum sie ihre juvenile Dramenleidenschaft aufgegeben habe, antwortet sie, es sei ihr nicht gelungen, die handelnden Personen mit Leben zu füllen. Ein erschütternd weises Wort. Als sei dieser Abstand zum Lebendigen, diese Realabstraktion, ihrem Leben eingeschrieben. Möglich, dass die politische Praxis ein Versuch ist, dem Leiden am Unlebendigen zu entkommen. Es wäre nicht das schlechteste Motiv. Und der Punkt, ihre alte Liebe Hegel ernst zu nehmen: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen“, sagte er mit Blick auf die Französische Revolution, „heißt Wirklichkeit zerstören“.

Sahra Wagenknecht ist eine begabte Theoretikerin. Als Politikerin wird sie eine neue Qualität gewinnen, wenn sie bereit ist, ihre Abstraktionen zu zerstören, um die Wirklichkeit zu gewinnen, sprich: den Graben zwischen der analytischen Potenz Marx’scher Analyse und möglicher Praxis im eigenen politischen Leben und Handeln anzuerkennen.

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