Der Fluch des Repowering: Ein langer Abstieg

Immer größere Windkraftanlagen durchsetzen das Land. Familie Hogeveen leidet unter den Schallwellen, die so ein Riesenwindrad verbreitet.

Überleben in der Gipskartonschachtel: Piet und Heimke Hogeveen Bild: Hannes von der Fecht

DÖRPUM taz| Pieter und Heimke Hogeveen sind auf der Flucht. Seit neun Monaten, in ihrem eigenen Haus. Dabei lässt es sich auf den ersten Blick im Dachgeschoss gut entspannen. Sonnenstrahlen tauchen den Holzfußboden in goldgelbes Licht. Hier oben stand einmal ihr Bett. Heute ist das Zimmer leer geräumt, bis auf einen Vorleger, verrutscht zurückgelassen auf dem Boden, als hätte es jemand eilig gehabt.

Die körperlichen Beschwerden waren nicht mehr auszuhalten, und so schraubten die Hogeveens das Ehebett auseinander und trugen es eine Etage tiefer, in die Waschküche. Die Beschwerden blieben, und so stiegen sie weiter hinab, bis in den Keller. Dort teilten sie ihr neues Schlafzimmer mit Malibu. Ihr Hund hatte immer draußen geschlafen, doch seit Kurzem verkroch auch er sich an einen Platz in der Nähe der Heizungsrohre. Malibu schläft noch heute im Keller, die Hogeveens nicht.

Das Haus ist ein ehemaliges Wasserwerk. Durch ein aufgestemmtes Loch im Küchenboden führt eine Leiter hinab in einen unterirdischen Wasserspeicher. Hier unten steht heute das Bett, auf Betonboden, zwischen fast 40 Zentimeter dicken Wänden. Das einzige Licht fällt durch den Schacht in der Decke. Die Hogeveens würden weiter fliehen, aber tiefer geht’s nicht.

Das Problem heißt E 82. Am 18. August 2013 joggte Heimke Hogeveen fünf Kilometer, kraulte 500 Meter im Schwimmbad und fuhr 20 Kilometer Rad. Die 52-Jährige hatte für den Triathlon „Gegen den Wind“ trainiert, und weil sie es an dem Tag nicht nach St. Peter-Ording schaffte, absolvierte sie ihr Programm privat. „Ich war körperlich topfit“, sagt sie.

„Im Dezember schaffte ich keine zwei Minuten mehr auf dem Crosstrainer.“ Innerhalb weniger Monate merkten die Hogeveens, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. „Du stiegst morgens aus dem Bett wie aus dem Sumpf gezogen, und dachtest: ’Wie soll ich heute den Tag überstehen?‘.“

Die Windkraftanlage E 82 des europäischen Marktführers Enercon steht in knapp 500 Metern Nähe auf einer Weide. Die weißen Spitzen der Rotorblätter ragen über die grünen Baumkronen vor dem Haus der Hogeveens hinweg. Ein monotones Brummen untermalt das Blätterrascheln, als würde in großer Höhe ein Jet in Endlosschleife fliegen.

Ein Prozent mehr Ertrag pro Meter

An gleicher Stelle stand seit 2002 eine kleinere Anlage, 100 Meter hoch. Im vergangenen Jahr wurde sie „repowered“. E 82 misst heute 140 Meter. Jeder Meter mehr Nabenhöhe, sagt Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands Windenergie, erhöhe den Windertrag um etwa ein Prozent. Im Oktober 2013 feierten der Bürgermeister des nordfriesischen Dorfs Dörpum mit den Anteilseignern Richtfest. Und die Hogeveens begannen, ihr Bett abzubauen.

Pieter Hogeveen ist DLRG-Ausbilder, seine Frau ist Sporttherapeutin und ehemalige Leistungssportlerin. Sie betreibt im Haus ein Gesundheitszentrum für Physiotherapie. Bis zu 100 Patienten am Tag und sieben Mitarbeiter, auch ihr Mann arbeitet mit.

Heimke Hogeveen liebt ihren Beruf. Man sieht es ihr nicht an. Es ist elf Uhr vormittags, in ihrer Gesichtsfarbe hat sich ein mattes Fischgrau festgesetzt. Mit müden Augen schaut sie ihrem Mann hinterher, der vom Schreibtisch aufsteht und einen dicken Aktenordner aus dem Regal zieht, ihn aufschlägt, sich wieder setzt und mit dem Finger über den Computerbildschirm fährt. In Pieter Hogeveens E-Mail-Postfach sind Hunderte E-Mails zur Causa E 82.

Zu laute Windräder oder zu sensible Menschen?

Widerspruchsbegründungen von Anwälten und Notaren, Lärmprotokolle, Anträge an das Landesamt für Landschaft, Umwelt und ländliche Räume. Er blättert durch die gelochten Seiten des Flächennutzungsplans, zeigt auf unterstrichene Textpassagen und zitiert Querverweise. Hogeveen sagt, E 82 sei zu laut.

Nobert Möllgaard, als Geschäftsführer der Windpark Dörpum GmbH & Co. KG auch für E 82 verantwortlich, beteuert, man habe sich an „alle gesetzlichen Regelungen wie Abstände und Lautstärkewerte gehalten“. Hat er auch bei den Hogeveens Messungen durchführen lassen? Nein, gibt Möllgaard zu. Aber das sei laut Baugenehmigung auch nicht notwendig gewesen. Seine Stimme klingt verhalten verständnisvoll für die Sorgen der Hogeveens.

Die Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts zu Lärmgrenzwerten würden sich immer auf „durchschnittlich empfindsame Menschen“ gründen, sagt Joachim Wessel vom Landesamt. Vom Geräusch einer Windkraftanlage würden sich durchaus einige belästigt fühlen, und zwar bereits vor dem Erreichen der gesetzlichen Lärmgrenzwerte, sagt Wessel. Regelmäßig träfen in seinem Amt Beschwerden ein. Aber die Richtwerte seien klar. Ihn scheint nicht zu verunsichern, dass es offenbar viele „über-empfindsame“ Menschen gibt.

Für die Hogeveens ist das Brummen von E 82 nicht das einzige Problem. Die Symptome kamen schleichend. „Ohrenschmerzen. Geschwollene Mandeln. Augenrötung“, Pieter Hogeveen lässt Zettel mit den handgeschriebenen Notizen auf den Tisch segeln. Es ist die Ausbeute der vergangenen Woche.

Wachen er oder seine Frau oder die beiden Kinder mitten in der Nacht mit Schmerzen auf, schreiben sie es auf. „Es geht hier nicht nur um Krach“, sagt er. Er sei in Amsterdam aufgewachsen, an das Hupen von Autos, an Busse und all die anderen Geräusche einer Großstadt gewöhne man sich.

Fast zehn Jahre haben sie in dem Haus gelebt, gesund und fit, und nun plötzlich nicht mehr. Ist es die Höhe von E 82? Die Hogeveens wissen es nicht. Sie wissen nur, dass man sich nicht an den ständigen Schwindel gewöhnen kann, nicht an Übelkeit, an Kopfschmerzen und das Druckgefühl in der Brust.

„Irgendetwas stimmt nicht mit deinem Körper“, erinnert sich Heimke Hogeveen an den vergangenen Spätherbst, als alles anfing und mit der Zeit immer schlimmer wurde. „Aber du wusstest nicht was.“ Sie ging zum Arzt. Der diagnostizierte Burn-out, „und so fühlte ich mich auch“.

Doch fuhr sie mit dem Auto oder dem Fahrrad weg und war ein paar Stunden nicht im Haus, legten sich die Beschwerden. Ihre Energie kehrte zurück, die Anspannung ließ nach. Zurück im Haus zeigten sich die Symptome erneut. Auch ihre Angestellten klagen seit dem Betrieb der neuen Anlage über Kopfschmerzen und Schwindel.

Die US-amerikanische Kinderärztin Nina Pierpont bezeichnete dieses neue Krankheitsbild 2009 als „vibrationsbedingte Störung des Gleichgewichtsorgans“. Die von Windkraftanlagen produzierten tieffrequenten Schallwellen, sogenannter Infraschall, seien Auslöser dieser physischen Beschwerden. Die St. Louis School of Medicine lieferte dazu kürzlich weitere Forschungsergebnisse.

„Irgendwie“ wird sich das schon beheben lassen

„Einzelmeinung“, schreibt die Landesanstalt für Umwelt, Messung und Naturschutz Baden-Württemberg auf ihrer Internetseite. Nicht relevant. Joachim Wessel meint, man könne bei körperlichen Problemen durch Infraschall auch von „subjektivem Empfinden“ sprechen.

Nobert Möllgard sagt schlicht, er kenne sich mit der Thematik nicht aus. Aber sollte Infraschall tatsächlich schädlich sein, glaubt er, ließe sich das schon „irgendwie“ beheben. Irgendwie heißt irgendwann. Nicht alle Menschen sind von Infraschall betroffen. „Sind wir zu wenige?“, fragen sich die Leidtragenden.

Bei der Windenergie geht es auch um den größten wirtschaftlichen Umbau Deutschlands seit der Wiedervereinigung. Eine Messung des Lärms von E 82 vor dem Haus der Hogeveens ist in Planung. Aber selbst wenn die Windkraftanlage zu laut sein sollte – abgeschaltet würde sie wohl nicht lange bleiben. Zu hoch ist die Wertschöpfung.

„Wegziehen“, rät Wessel all jenen, die wie die Hogeveens an „Überempfindlichkeit“ leiden. Alternativ könne man sich auch einen „schalltoten Raum“ bauen, als „Oase der Ruhe“. Er wisse, dass klinge brutal, aber ihm seien ohnehin die Hände gebunden.

Wegziehen komme nicht infrage, sagen die Hogeveens. Ihre Praxis laufe gut, sie hätten viel investiert in den Umbau des alten Wasserwerks. „Wir beide können im Bunker überleben“, sagt Heimke Hogeveen. Ihre Kinder nicht. Den 16-Jährigen haben sie auf ein Internat nach Flensburg verabschiedet. Die jüngere Tochter übernachtet sooft es geht bei Freundinnen.

Nach Feierabend geht das Ehepaar täglich ein paar Stunden am Deich spazieren. Sie haben Zeit. Der Freundeskreis, dem auch die Frau des Bürgermeisters angehörte, kommt schon lange nicht mehr zur Sportgymnastik.

Als Opfer sehen sich die Hogeveens nicht. Andere hätten das viele Geld statt für Anwälte und Messungen vielleicht für einen langen Urlaub ausgegeben. Aber die Hogeveens wissen: Weglaufen ändert nichts. Sie wollen aufklären, „damit es anderen nicht ähnlich ergehen muss wie uns“.

Im unterirdischen Wasserspeicher haben sie sich eingerichtet. An der nackten Betonwand hängt ein Foto, das Loch in der Decke ist vergrößert, damit der Abstieg leichter geht. Doch seitdem schlafen sie auch wieder schlechter. Infraschall findet seine Wege. Deshalb liegen auf dem Betonboden braune Gipskartonplatten. Pieter Hogeveen versucht sich an der Königsdisziplin der Bauphysik: „Es ist unser Raum im Raum“, sagt Heimke Hogeveen müde. Die „schalltote“ Kammer als letzte Zuflucht.

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