Daniel Cohn-Bendit über Pariser Anschlag: „Charlie Hebdo darf nicht sterben“

Das Satiremagazin war vom libertären '68er-Geist bestimmt, sagt Daniel Cohn-Bendit, Weggefährte der ermordeten Cartoonisten Wolinski und Cabu.

„Der Islamofaschismus muss militärisch bekämpft werden“, sagt Cohn-Bendit nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“. Bild: dpa

taz: Daniel Cohn-Bendit, Sie kannten als Anführer der Pariser Mai-Revolte einige der ermordeten Redakteure und Zeichner von Charlie Hebdo seit 1968. Was macht die Satirezeitung für Sie aus?

Daniel Cohn-Bendit: Georges Wolinski und Cabu hatten im Mai 1968 mit anderen eine eigene Zeitung gegründet mit dem Titel Action. Das wurde die Bewegungszeitung der französischen Studentenrevolte. Daraus wurde 1970 Charlie Hebdo. Sie haben uns, die wir 1967 erstmals auf die Straße gingen, seit dieser Zeit begleitet. Das waren libertäre Zeichner und Journalisten, die eine radikale Kritik an der Gesellschaft hatten.

Und im 21. Jahrhundert?

Charlie Hebdo repräsentiert eine radikalsatirische Gegenöffentlichkeit. Die Zeichner waren die Spitze der französischen Satire. Diese Zeitung war bestimmt vom libertären Geist von '68. Antiklerikal, antinationalistisch. Wenn man jetzt sagt, man müsse den Geist von Charlie Hebdo verteidigen, bedeutet dies, dass man den Geist von '68 verteidigen muss. Bei dem Fest zu meinem 68. Geburtstag im letzten Juni produzierte Wolinski eine Action-Sondernummer als Geschenk für mich. Der Titel lautete: „Der Verräter“.

Nicht sehr schmeichelhaft.

Doch, im Gegenteil. Das war liebevoll gemeint.

Mit Jean Cabut, der unter dem Namen Cabu bekannt ist, haben Sie ein Buch veröffentlicht.

Ich durfte das Vorwort übernehmen. Da schreibe ich: Cabu ist einer, der keine Angst hat. Einer, der niemanden verletzen will, mit Zeichnungen aber Widersprüche aufzeigt. Cabu war 77 und hatte das Lächeln eines jungen Mannes. Ein liebevoller Mensch, kein bisschen arrogant.

Der Publizist und Politiker der Partei der Grünen in Frankreich und Deutschland wurde 4. April 1945 in Montauban, Frankreich, geboren. Er war Aktivist der Studentenbewegung in Frankreich, wurde 1968 in die Bundesrepublik ausgewiesen. In Frankfurt am Main war er neben Joschka Fischer ein führender Kopf der Spontibewegung. Von 1989 bis 1997 war er in Frankfurt Dezernent für Multikulturelles. Danach engagierte er sich vor allem als Abgeordneter des Europäischen Parlaments in Brüssel. Bis zu seinem Ausscheiden 2014 war er Kofraktionsvorsitzender der Europäischen Grünen.

„Hebdo“ heißt Wochenzeitung.

Ja, und „Charlie“ spielt auf den früheren Präsidenten Charles de Gaulle an. Als de Gaulle 1970 in seinem Heimatdorf Colombey starb, gestalteten sie einen Titel: „Tragischer Tanzabend in Colombey – ein Toter.“ Das bezog sich auf eine Katastrophe, die kurz zuvor in einer Disko passiert war. Der damals regierende Georges Pompidou ließ das Magazin verbieten. Die heilige Kuh de Gaulle durfte man nicht auf die Schippe nehmen. Daraufhin benannten sie sich in Charlie Hebdo um.

Worauf wollen Sie hinaus?

Die Zeitung war immer antinationalistisch. Das muss man im Kopf haben. In einem Jahr hatten sie zwölf Anzeigen wegen Verunglimpfung von Papst und Jesus Christus – und nur eine von radikalen Islamisten. Die hatte mit den Mohammed-Karikaturen zu tun. Ihr Motto war: Wir sind radikal und karikieren alle.

Waren sie sich der Gefahr bewusst?

Sie waren sich dieser sehr bewusst. Der jetzt ermordete Chefredakteur Charb hat sich ganz explizit gefährdet und seine Position radikal öffentlich vertreten. Die Haltung war: Lieber aufrecht sterben, als auf Knien leben.

Finden Sie das richtig?

Ich finde es bewundernswert. Die hatten einen libertären Widerspruchsgeist, der vor nichts Halt machte. Das heißt nicht, dass sie immer recht hatten.

Ein Vorwurf lautet: Früher karikierten sie die Macht, heute verstärkt auch eine radikale Minderheit. Wie sehen Sie das?

Ich habe diese Diskussion mit ihnen öffentlich geführt. Sie sagten immer: In der globalisierten Welt ist der Islam zum Teil auch an der Macht. Wir kritisieren sie, die kritisieren uns, und so entsteht lebendige Öffentlichkeit. Artenschutz für heilige Minderheiten, das funktioniert nicht.

Es heißt nun oft, der Angriff habe der Pressefreiheit gegolten.

Sie sind ermordet worden, nicht die Pressefreiheit. Um ihnen gerecht zu werden, muss man sich mit ihnen und ihren Positionen beschäftigen – und nicht abstrakt mit der Pressefreiheit.

Geht es im Kern wirklich um Religion und Freiheit oder sind das Stellvertreter?

Die, die geschossen haben, wollten den Propheten rächen. Es geht ihnen darum, den siegreichen Feldzug des Islam fortzusetzen, den Krieg in die Metropolen des Westens zu tragen. Das ist eine Realität. Dahinter steht für uns zur Debatte: Was bedeutet Freiheit und wie wollen wir sie verteidigen, ohne dabei Solidarität und Integration dem Altar der Freiheit zu opfern?

Geht es in Wahrheit um Teilhabe und verweigerte Teilhabe?

Das auch. Teilhabe an gesellschaftlichem Reichtum, das gehört alles dazu.

Müssen wir die „westlichen Werte“ verteidigen?

Nein, wir müssen radikal die Werte von Freiheit und Solidarität verteidigen.

Präsident Hollande spricht von einem Angriff auf das „Herz des Staates“.

Es ist ein Angriff auf einen Teil des Herzens Frankreichs. Es gibt eine berühmte Titelseite von Charlie Hebdo, in der Mohammed weint und sagt: Es ist schrecklich, von Arschlöchern geliebt zu werden. Ich sage: Es ist noch schrecklicher, von Arschlöchern getötet zu werden.

Die mutmaßlichen Attentäter werden dem islamistischen Milieu Frankreichs zugerechnet. Was bedeutet dieser Anschlag für französische Muslime?

Es gibt einen radikalisierten Islamismus, der faschistisch handelt. So wenig wie vor 1945 das ganze Abendland faschistisch war, so ist es nun mit Islam und Morgenland. Die backen sich etwas, ein Teil des Volkes geht mit, ein Teil der religiösen Institutionen schweigt. Auf was sich die Islamofaschisten beziehen, ist nicht der Islam. Sie backen sich einen, so wie der IS.

Was folgt daraus?

Dieser Islamofaschismus muss militärisch bekämpft und zerschlagen werden. Auf der anderen Seite müssen wir den Islam als Gesellschaft aufnehmen. Das ist die Aufgabe Europas. Das Problem, eine weitere Religion zu integrieren, hatte Europa seit Jahrhunderten nicht. Frankreich ist radikal laizistisch, Deutschland nicht. Aber wie auch immer man Religionen handhabt: Es muss gleichberechtigt mit dem Islam laufen. Aber wir müssen auch gesellschaftliche Strukturen schaffen, in denen Jugendliche aus muslimischen Familien aus der Religion austreten können, wenn sie das möchten. Und wir müssen die Werte unserer Gesellschaft verteidigen.

Wie soll das konkret gehen?

Der 1995 ermordete israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat gesagt: Wenn man verhandeln will, soll man verhandeln – ohne im Kopf zu haben, dass es den Terrorismus gibt. Wenn man ihn bekämpft, muss man ihn bekämpfen – ohne im Kopf zu haben, dass es Verhandlungen gibt. Übersetzt heißt das: Wenn man den islamistischen Terrorismus und IS bekämpft, muss man das tun, ohne im Kopf zu haben, dass man Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen sind, auch wieder integrieren muss. Wenn wir Integration machen, müssen wir das tun, ohne im Kopf zu haben, dass es den Terrorismus gibt. Das setzt Rationalität voraus, ist aber die einzige Lösung.

Die Situation in Frankreich war bereits aufgeladen. Anschläge islamistischer Fanatiker, andererseits der Aufstieg des Front National. Folgt dem Massaker von Paris nun die Erosion der Mitte, wie sie Michel Houellebecq in seinem gerade erscheinenden Roman „Unterwerfung“ schildert?

Wir haben in Frankreich im Moment eine Auseinandersetzung, die ähnlich gelagert ist wie in Deutschland. Da Sarrazin, Pegida, AfD. Dort Éric Zemmour, Front National, Houellebecq.

Sie stellen Houellebecq in diese Reihe?

Ich bin mir unsicher. Aber Houellebecq sagt, unsere Gesellschaften sind moralisch am Ende, die Mehrheit wählt deshalb den islamistischen Präsidenten.

Das ist aber Fiktion.

Ja. Doch die politische Aussage lautet: Die Demokratie ist tot. Und das ist keine literarische Chiffre. Der Mann kommt in allen Fernsehsendungen zu höchsten Einschaltquoten. Der tut unpolitisch, hat aber eine tiefe politische Botschaft: Ihr Franzosen seid am Ende und werdet euch dem Islam unterwerfen. Das Buch heißt nicht umsonst „Unterwerfung“.

Das läuft unter Literatur.

Hört mir auf zu sagen, das sei nur Literatur. Das ist eine Sicht auf die Welt, die an die demokratische Substanz und die Leidenschaftsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht mehr glaubt.

Er kann schreiben.

Ja, das stimmt und deswegen erregt mich sein Text so.

Womit hängt die Schwäche der demokratischen Erzählung in Frankreich zusammen?

Es gibt die wirtschaftliche Krise, es gibt Erfahrungen von Diskriminierung und es gibt die Globalisierung, die uns auch die Weltkonflikte nach Hause bringen. Vieles ist widersprüchlich. Frankreich ist masochistisch, hat aber zur Zeit eine positive demografische Entwicklung. Und wenn du Kinder haben willst, dann hast du einen Grundoptimismus. Trotz aller Krisen glaubst du an die Zukunft. Und Houellebecq, dreimal dürfen Sie raten …

Ja?

… hat keine Kinder. Ich sage nicht, dass er welche haben muss, um Gottes Willen. Aber ich sage: Wir sind herausgefordert, positive Antworten zu finden. Wie meistern wir unsere und die aktuellen Krisen? Bei dem zu Neujahr leider verstorbenen Ulrich Beck konnten Sie in Ansätzen solche Antworten finden.

Europa?

Europa! Wir erleben die schrumpfende Bedeutung der alten Nationalstaaten. Die Probleme mit dem radikalen Islam können wir in Europa nur europäisch lösen. Die in Europa lebenden Muslime wollen hier leben. Es gibt auch kleine Minderheiten, die nicht nur da leben, wo sie sind. Es gibt die Wahrheit der Satellitenschüssel, des Internets mit den übertragenen Realitäten aus Palästina, Syrien, Libyen, Irak, Asien und Afrika. Aus ihnen erwachsen zusätzliche Angebote, Verunsicherungen und Bedrohungen.

Was tun?

Es gibt in Europa mehr Muslime als Holländer. Vielleicht ist es eine Chance für Europa, dass wir das Verhältnis von Freiheit und Integration neu verhandeln müssen. Wir brauchen eine Erzählung, einen neuen Diskurs der Integration, durch den wir Europäer uns untrennbar für die nächsten Jahrhunderte als multikulturelle Nation definieren.

Wird man sich in Frankreich und anderswo künftig noch trauen, Islamisten in Karikaturen herauszufordern?

Vor mir liegt die Tageszeitung Liberation. Alles voll mit Karikaturen, auch Mohammed-Karikaturen. Nächsten Mittwoch kommt Charlie Hebdo in einer Auflage von einer Million heraus. Die normale Auflage ist 60.000. Karikaturisten aller Zeitungen haben sich zusammengetan. Es darf nicht sein, dass wir in die Knie gehen, sonst hätten die Terroristen gewonnen.

Kann es für Charlie Hebdo angesichts der Toten überhaupt weitergehen?

Ich weiß es nicht. Aber die Stimmung in Frankreich ist eindeutig: Charlie Hebdo darf nicht sterben.

Daniel Cohn-Bendit befindet sich zur Zeit in Paris. Das Gespräch zeichneten wir telefonisch auf.

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