Homophobie beim Psychologen: Die Behandlung

Ein Psychologe soll versucht haben, seinen Patienten vom Schwulsein zu heilen, weil er doch eigentlich Frauen liebe. Der Patient zog vor Gericht.

Dreieinhalb Jahre Therapie, 399 Sitzungen und seit sechs Jahren ein Prozess – Jan Roth* in Frankfurt am Main. Bild: Bernd Hartung

FRANKFURT/MAIN taz | Die Sätze haben keine Macht mehr über ihn, auch wenn sie ihm noch nachgehen wie Gespenster. „Ziel einer Therapie ist, dass man ein freier Mensch sein kann“, hatte der Psychologe zu ihm gesagt. Ein freier Mensch, sagt Jan Roth*, das wollte er ja gerne sein. „Das war wie ein Köder.“ Dies sei aber nur möglich, darauf habe der Therapeut beharrt, wenn er an seiner sexuellen Identität arbeite.

Roth hatte nie Zweifel daran, dass er Männer liebt. Sein Psychologe aber habe ihn nicht wegen der Probleme behandelt, deretwegen er gekommen war – sondern wegen seiner Homosexualität. So erzählt er es; der Therapeut streitet die Vorwürfe ab.

Roth sitzt in seiner Wohnung in Frankfurt am Main, ein ruhiger Mann, 33 Jahre alt, mit Seitenscheitel und Wollpullover. Sein Wohnzimmer ist hell und aufgeräumt, auf dem Sofa stapeln sich Kissen, darüber hängen Ölbilder, grüne Landschaften. Roth gießt Rooibostee ein und denkt zurück an diese Therapie, an der er fast zugrunde gegangen wäre. „Ich habe erlebt, wie dadurch ein Loch in mich gerissen wurde. Und das bleibt immer Teil meiner Biografie.“

Deswegen hat er den Analytiker verklagt. Er sagt, es geht ihm nicht um Wiedergutmachung. „Die krieg ich, glaube ich, nicht mehr.“ Er will, dass die Diskriminierung, die er erfahren hat, öffentlich wird. Und dass die Diagnose aus seiner Akte verschwindet: narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Die Frage nach der Deutungsmacht

Es geht in dieser Geschichte nicht nur um einen Behandlungsfehler. Es geht um Definitionen und Deutungsmacht: Wie weit geht das Recht eines Psychologen, seine Patienten zu beurteilen? Wer hat zu bestimmen, was Krankheit ist und was nicht?

Der Therapeut hat vor Gericht gesagt, es sei ihm nie darum gegangen, die Homosexualität von Roth als Krankheit zu behandeln. Die Fragen der taz beantwortet er nicht. Am Telefon wolle er sich nicht äußern, sagt er. Doch in seinen Unterlagen weist vieles darauf hin, dass Roth die Wahrheit sagt: Am 25. Juli 2002 schreibt er an Roths Krankenkasse: „Die Homosexualität scheint sowohl Ausdruck einer narzisstischen Objektwahl in Identifikation mit der Mutter als auch Ausdruck der Vatersehnsucht zu sein.“ Weiter unten: Bei Roth scheine „keine sichere homosexuelle charakterliche Einbindung vorzuliegen“.

Die Weltgesundheitsorganisation hat Homosexualität 1990 aus ihrer Klassifikation der Krankheiten gestrichen. Dennoch, schätzt Gisela Wolf vom Verband von Lesben und Schwulen in der Psychologie, werden 10 bis 15 Prozent aller Homosexuellen in Psychotherapien mit mehr oder weniger vehementen Umpolungsversuchen konfrontiert.

„Reifedefizit“ Homosexualität

Nicht nur dass christliche Therapeuten „Konversionstherapien“ anbieten, Therapien mit dem Ziel, Homo- in Heterosexuelle umzuwandeln. Gerade auch ältere Analytiker ließen sich mitunter noch mehr von ihren Ressentiments leiten als vom Stand der Forschung: „Homosexualität galt trotz Entpathologisierung lange als Reifedefizit“, sagt Wolf, „und diese Art von Vorurteilen ist noch relativ virulent.“

Jan Roth war gerade 20, als er einen Therapeuten suchte. Er hatte in der mündlichen Abitur-Prüfung einen Blackout gehabt und fürchtete, so etwas könnte sich an der Universität wiederholen. Er fing gerade an zu studieren, hatte Nebenjobs. Sein Vater, den er erst mit zwölf kennengelernt hatte, weigerte sich, ihm Unterhalt zu zahlen. Roth klagte gegen ihn. „Ich hatte mich ein bisschen übernommen“, sagt er. „Ich stand sehr unter Druck und hatte Schlafstörungen.“

Im März 2002 begann die Therapie. Der Psychoanalytiker, sagt er, gab sich streng und autoritär. Er erklärte ihm nicht, wie die Therapie ablaufen sollte, nur dass sie Jahre dauern würde. Und dass er drei-, viermal pro Woche kommen müsste. Roth nahm das hin. Der Therapeut vermittelte ihm auf seine bestimmende, fürsorgliche Art den Eindruck, dass er sich seiner annehmen würde.

Der abwesende Vater, die dominante Mutter

Es gab vieles, das Roth belastete. Sein Schwulsein gehörte nicht dazu. Seit er 18 war, lebte er offen schwul. Er beriet andere Jugendliche bei ihrem Coming-out. Trotzdem, sagt er, kreiste die Therapie um seine sexuelle Orientierung. Denn aus Sicht des Therapeuten gab es Gründe dafür, warum er schwul ist: den abwesenden Vater, die dominante Mutter.

Eigentlich begehre er Frauen, nicht Männer. Dies habe er nur verdrängt. „Er sagte: ’Sie müssen das aufarbeiten, sonst werden Sie nie ein freier Mensch sein.‘“ Ausfälle wie in der Prüfung würden wiederkehren. „Ich war damals zu offen und naiv. Ich dachte, ich muss da durch.“

Roth sitzt fast reglos am Fenster, spricht in nüchternen Sätzen, tastet sich durch seine Geschichte wie über dünnes Eis. Auf dem Tisch liegen Stapel von Kopien, Gerichtsakten, Behandlungsunterlagen. Der Psychologe, sagt er, habe all seine Ängste mit seinem Schwulsein verkettet. Dass er vor Klausuren oft zu zittern begann, sei Ausdruck seines „Schwankens zwischen Homo- und Heterosexualität“.

Die Torte als Vaginasymbol

Auch in seinen Träumen habe er immer nur Anzeichen sexueller Verwirrung gesehen: Einmal träumte er, er kaufte eine Torte. Die Torte, habe er gesagt, symbolisiere die Vagina. „Sie bringen die Frau nach Hause.“ Einen Auffahrunfall habe er als Chiffre für Sex von hinten gelesen. „Das ist halt das Perfide“, sagt Roth, „dass er seine Thesen in meine Träume interpretiert und mir damit gesagt hat: Das bist du.“

Die Notizen des Therapeuten scheinen das, was Roth sagt, zu bestätigen. 21. Juni 2002: „Mädchen als verdrängtes Liebesobjekt“, 17. Januar 2003: „Homo-heterosex durch Unfall“, 22. Juni 2004: „Homosex nimmt ihm die Potenz“, 17. Juni 2005: „Angst vor Frauen => Homo als Flucht“.

Es gibt keinen Beleg dafür, dass sich die sexuelle Orientierung verändern lässt. Sicher aber ist, dass Konversionstherapien gefährlich sind. „Wenn jemand gezwungen wird, an sich vorbeizuleben, und seine Orientierung immer wieder negativ konnotiert und bewertet wird, kann es zu Depressionen, Suizidgedanken und Verzweiflung kommen“, sagt Udo Rauchfleisch, Psychoanalytiker und emeritierter Professor der Universität Basel, zu dessen Schwerpunkten Homosexualität zählt.

„Etwas Diskriminierendes“

Rauchfleisch ist mit Roths Fall vertraut. Er hat ihn als Privatgutachter für den Prozess hinzugezogen. Roths Behandlung weise „Merkmale einer Konversionstherapie auf“ und habe ihm „erheblichen Schaden“ zugefügt, steht im Gutachten. Die Gegenseite argumentiert, es sei üblich, die Sexualität zu besprechen. „Blanker Unsinn“, sagt Rauchfleisch. „Bei heterosexuellen Patienten würde man die Orientierung nie so stark thematisieren und hinterfragen. Allein darin liegt schon etwas Diskriminierendes.“

Mit der Zeit verfing sich Jan Roth in der Argumentation seines Therapeuten. „Sie werden schon noch sehen, dass es ist, wie ich sage“, habe ihm der Therapeut immer wieder gesagt. Ein freies Leben führen. Seine Konflikte aufarbeiten. Die Sätze begannen zu wirken. Immer häufiger stiegen Fragen in ihm auf: Hat er das in mir hervorgeholt? Oder mir eingetrichtert? „Wenn man so etwas jahrelang hört, da zweifelt man an sich selbst. Natürlich sucht man die Schuld bei sich.“ Man merkt, dass es ihm noch jetzt schwerfällt, das Erlebte in Worte zu fassen.

Ende 2004 fällt Roth in eine schwere Depression, dazu kommen Panikattacken, Selbstmordgedanken. Er zieht sich zurück, geht nicht mehr zur Uni. Der Analytiker ist in jener Zeit der einzige Mensch, mit dem er regelmäßig Kontakt hat. „Ich habe erst angefangen, ihn zu hinterfragen, als ich merkte, wie stark ich abgerutscht war“, sagt er. Im Herbst 2005, nach 399 Sitzungen, brach er die Therapie ab.

Es hat gedauert, bis er sein Leben wieder unter Kontrolle bekam. Seit 2011 ist er voll berufstätig. Er arbeitet nun mit Dementen und Behinderten.

Jan Roth gießt noch einmal Tee auf; blickt nach draußen. Niesel sprüht auf eine Einkaufsstraße. Passanten hasten umher. Sein Rechtsstreit mit dem Psychologen zieht sich nun schon fast sechs Jahre hin. Aufgeben kommt für Roth nicht infrage. „Ich denke, es gibt Dinge, die über meinen Fall hinaus wichtig sind.“ Nach allem, was man weiß, ist Roth der erste Homosexuelle, der wegen des Vorwurfs, ihn einer Konversionstherapie unterzogen zu haben, gegen einen Psychotherapeuten klagt. Ein Gutachter, den das Gericht bestellte, sah keinerlei Anzeichen, dass Roth je eine Persönlichkeitsstörung hatte. Allenfalls habe nach dem Abitur eine soziale Phobie oder auch nur eine Belastungsreaktion vorgelegen.

10.000 Euro Schmerzensgeld

Das Landgericht Frankfurt verurteilte den Psychologen 2011 dazu, Roth 10.000 Euro Schmerzensgeld und knapp 10.000 Euro Schadenersatz zu zahlen. Der Psychologe legte Berufung ein. Ein neuer Sachverständiger wurde beauftragt. Ohne Roth getroffen zu haben, schrieb er, dem Analytiker sei nichts vorzuwerfen. Zuletzt wurde der Fall Mitte Dezember vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verhandelt.

Roth fragt sich, wieso sein zentrales Anliegen, ob der Analytiker ihn gegen das Schwulsein behandelt hat, im Verfahrensverlauf immer weniger eine Rolle spielte. „Ich hab das Gefühl, dem wird kein großer Stellenwert beigemessen.“ Stattdessen geht es um die Diagnose, die Therapie, und ob er richtig über die Risiken aufgeklärt war. Das Gericht hat nun einen Vergleich vorgeschlagen, wonach Roth knapp 20.000 Euro bekäme. Er wäre bereit anzunehmen, auch wenn ihm ein Urteil lieber wäre. Doch wenn der Vergleich zustande kommt, könnte er abschließen. Und endlich aufhören, über die Sätze des Psychologen nachzudenken.

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