Geschichte der deutschen Demokratie: Jüdische Heimat Bundesrepublik

Nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen fordert Netanjahu, Juden sollten nach Israel auswandern. Doch Europa ist und wird jüdisch bleiben.

Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld (v.l.n.r.) bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Mai 1968. Bild: dpa

Der israelische Premier Benjamin Netanjahu befindet sich im Wahlkampf und muss ernsthaft fürchten, im März abgewählt zu werden. Daher nutzt er jede Gelegenheit, sich ins rechte Licht zu setzen. Er schreckte daher auch nicht davor zurück, sich uneingeladen in die erste Reihe der großen Trauerdemonstration von Paris für die Opfer der islamistischen Mordtaten zu drängen.

Die Hinterbliebenen der ermordeten Juden bedrängte er, die sterblichen Überreste der Opfer in Israel beisetzen zu lassen. Die Juden Frankreichs rief er zur Auswanderung auf. Jetzt, nach dem tödlichen Anschlag in Kopenhagen und der Ermordung eines jüdischen Wachmanns, steigerte er seine Rhetorik noch und forderte die Juden ganz Europas auf, nach Israel auszuwandern – in Netanjahus anmaßenden Worten sei dies ihre Heimat.

Bei alledem ist die Wahrscheinlichkeit, in Israel einem terroristischen Attentat zum Opfer zu fallen, keineswegs geringer als in Frankreich oder Dänemark. Allerdings, so viel ist einzuräumen, sind aus Frankreich ausgewanderte Juden in Israel vor Anpöbeleien in Schulen und auf Straßen sicher – anders als in französischen Vorstädten. Auch in Deutschland wurde vor beinahe zwei Jahren ein Rabbiner mit seiner kleinen Tochter auf offener Straße angegriffen, im vergangenen Sommer wurden zum ersten Mal seit 1945 auf deutschen Straßen wieder offen judenfeindliche Hassparolen geschrien. Daher sind auch hierzulande nicht wenige jüdische Familien verunsichert, manche überlegen, das Land zu verlassen.

Doch kann das nicht die richtige Antwort auf Terror und Antisemitismus sein. Treffender als es der neu gewählte Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, am 15. Januar in der Jüdischen Allgemeinen zu Protokoll gegeben hat, kann man es kaum ausdrücken: „Angst war noch nie ein guter Ratgeber. Und ich würde es auch als falsch empfinden, vor Terrorismus einzuknicken.“

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Bewusst zurückgekehrt

Vor allem aber gibt es noch einen weiteren, mindestens so gewichtigen Grund, in Deutschland zu bleiben – ganz abgesehen davon, dass Deutschland inzwischen der Lebensmittelpunkt von etwa zweihunderttausend Jüdinnen und Juden ist. Es waren Jüdinnen und Juden, die – was inzwischen beinahe vergessen ist – nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich am Aufbau von Demokratie und demokratischer Kultur in der Bundesrepublik beteiligt waren.

Sie waren bewusst zurückgekehrt, um ein besseres Deutschland aufzubauen: Die sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Jeannette Wolff, der Regierende Bürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, der nordrhein-westfälische Justizminister Josef Neuberger, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der mit dem Frankfurter Auschwitzprozess die moralische Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft über den millionenfachen Mord an den europäischen Juden in die Wege leitete, der kompromisslose Mahner Heinz Galinski sowie nicht zuletzt Ignatz Bubis, der 1992 als Vorsitzender des Zentralrats der Juden angesichts der rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen vor Ort seine Solidarität mit den Angegriffenen zeigte.

Doch waren es nicht nur jüdische PolitikerInnen, die einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau demokratischer Kultur leisteten: Auch die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik Deutschland war wesentlich ein Werk jüdischer RemigrantInnen, aber auch hier gestrandeter Juden, eine Gründung, die sich nicht in offiziellen Gründungsakten und eindeutigen institutionellen Dokumenten niederschlug, sondern in teils verängstigten, teils sehnsüchtigen, teils verschämten, teils immer wieder bezweifelten Einzelentscheidungen von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen.

Es handelt sich um ein Erbe, das bis heute verpflichtet. Ein eher konservativer Soziologe, Clemens Albrecht, verlieh dieser Tatsache schon 1999 in einer Studie zur Geschichte der „Frankfurter Schule“ prägnanten Ausdruck: „Als Juden, Remigranten, Sozialwissenschaftler und Linksintellektuelle gab es neben ihnen kaum andere Intellektuelle, die glaubwürdiger in der Rehabilitierung deutscher geistiger Traditionen waren. Eben weil der Faschismus für Horkheimer und Adorno kein spezifisch deutsches Phänomen ist, war die (…) Kritische Theorie die einzige Position, durch die ein radikaler Bruch mit dem Faschismus ohne Bruch mit der eigenen kulturellen Identität möglich war.“

Die Weimarer Moderne

Doch waren es keineswegs nur – und hier irrt Albrecht – die Frankfurter Professoren Horkheimer und Adorno, denen die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik zu verdanken ist. Die Weimarer Moderne und die eigene Erfahrung von Verfolgung, Ausgesetztheit und Flucht hat das Werk all jener, die zurückkehrten und die frühe Bundesrepublik geistig formten, maßgeblich geprägt.

So sind aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen Werk zu nennen: etwa die um 1920 geborene Lyrikerin und Romanautorin Hilde Domin oder der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der Drehbuchautor und Regisseur Peter Lilienthal, der Produzent Arthur Brauner, die Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath, die Theaterregisseure Peter Zadek und George Tabori, Philosophen und Kulturwissenschaftler wie Ernst Bloch, Michael Landmann, Werner Marx und Friedrich Georg Friedmann, der Soziologe Alphons Silbermann, der Publizist Ralf Giordano, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer – die Erfahrung von KZ, erzwungener Emigration sowie Vernichtung nächster Angehöriger ist aus der Gründung der Bundesrepublik nicht wegzudenken.

Diese Erfahrungen prägten ihr Werk genauso tief wie die des aus Österreich stammenden Auschwitzhäftlings Jean Améry, der sich in der Bundesrepublik und nicht in seinem Geburtsland Österreich niederließ, der jedoch sein Leben nach der erlittenen Folter nicht mehr lange fortsetzen wollte.

Die aufklärerische Literatur der Bundesrepublik ist zudem ohne das Werk des Romanciers Peter Weiss oder des Lyrikers Erich Fried, die ihren Lebensmittelpunkt nicht in Westdeutschland hatten, undenkbar.

Auch gehört ein Paul Celan, der für die Lyrik im Nachkriegsdeutschland bestimmend war, der deutschsprachigen jüdischen Kultur an, wenngleich der aus Siebenbürgen stammende Dichter ein Heimatloser war und blieb.

Pluralistische Demokratie

Es waren schließlich remigrierte jüdische Politologen, die der jungen Republik ihr Selbstverständnis als verfasster, pluralistischer Demokratie gaben: Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Franz Neumann sowie Ossip Flechtheim, der an einer demokratisch-sozialistischen Option festhielt.

Aber auch eine wiedererstehende Judaistik verdankt zurückgekehrten Jüdinnen und Juden außerordentlich viel: Eine Neugründung dieses Fachs hätte es ohne Jacob Taubes und Marianne Awerbuch nicht gegeben.

Zu erinnern ist auch an Adolf Leschnitzer, der 1955 in Berlin die erste Honorarprofessur für die „Geschichte des deutschen Judentums“ erhielt, sowie an den Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps und den Historiker Joseph Wulf – er verzweifelte tödlich an der Gleichgültigkeit Nachkriegsdeutschlands.

Zu nennen sind weiterhin bedeutende Pädagogen: Max Fürst, der uns ein anschauliches Bild der jüdischen Jugendbewegung in Weimar hinterlassen hat, der Erziehungswissenschaftler Ernst Jouhy, der nach einer Tätigkeit in der französischen Résistance Lehrer an der Odenwaldschule und dann Professor in Frankfurt wurde – vor allem aber auch Berthold Simonsohn, der nach leidvoller Haft in Theresienstadt, nach Jahren aktiver jüdischer Sozialarbeit als Professor in Frankfurt am Main Wiederbegründer der psychoanalytischen Pädagogik wurde.

Vorbilder im Kampf gegen Judenhass

Ohne Remigranten auch kein erneuertes deutsches Theater: die Schauspieler und Regisseure Fritz Kortner, Ernst Deutsch und Ida Ehre, Therese Giehse und Kurt Horwitz. Sie alle, Männer und Frauen, sind bis heute Vorbilder im Kampf gegen Judenhass, Rassismus und Demokratieverachtung – egal, ob diese Haltungen von mörderischen, salafistischen Wirrköpfen oder dumpfen Wutbürgern wie den Pegida-Demonstranten an den Tag gelegt werden.

Für die Juden in der Bundesrepublik Deutschland gilt auch heute – mit Abstrichen –, was Bertolt Brecht 1952 in seiner „Kinderhymne“ geschrieben hat: Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s. Das gilt, wie gesagt, nur mit Abstrichen. Denn „lieben“ kann man – in den Worten des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann – allenfalls seine Frau, aber nicht seinen Staat.

Allemal aber genügt Respekt, um zu bleiben und die nach dem Nationalsozialismus unter Schmerzen erkämpfte demokratische Kultur vor Ort, also in Deutschland, zu verteidigen.

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