Die Wahrheit: Klassentreffen mit Staatsanwalt

Julie sah verstört aus. Was denn los sei, wollte ich wissen. „Ich bin zu einem Klassentreffen eingeladen, 20 Jahre nach dem Abitur“, stöhnte sie.

Julie sah verstört aus. Was denn los sei, wollte ich wissen. „Klassentreffen“, stöhnte sie. „Ich bin zu einem Klassentreffen in die Schule eingeladen, 20 Jahre nach dem Abitur.“ Das sei doch großartig, meinte ich, es sei doch nett, alte Bekannte nach so langer Zeit wiederzusehen und zu erfahren, was aus ihnen geworden ist.

„Mit denen, die ich mochte, bin ich ja immer noch in Kontakt“, entgegnet sie. „Und die anderen haben mich nie interessiert.“ Dann geh doch nicht hin, schlage ich vor. „Ich muss hin“, meint sie. „Wenn ich nicht hingehe, reden sie über mich. Und das ist mir dann doch nicht egal.“

Ich war auch mal auf solch einem Klassentreffen, erzähle ich ihr. Damals gab es kein Internet und Facebook schon gar nicht. Man wusste also nicht, was den anderen in den vergangenen beiden Jahrzehnten widerfahren war. Aber man ahnte es.

Einer hatte wohl die Teppichfirma des Vaters übernommen, ein anderer war wie der Großvater Polizist geworden. Dann gab es zwei Sonderlinge, die neben ihrem Sonderlingdasein noch etwas gemein hatten: die Liebe zu Motorrädern. Herauszufinden, was sie inzwischen machten, lieferte Grund genug, zum Klassentreffen zu gehen.

Die Enttäuschung war groß, als keiner der beiden auftauchte. Einer hatte aber telefonisch abgesagt und erklärt, dass der andere Sonderling genau wisse, warum er absage. Was war geschehen? Hatte er ihm die Freundin ausgespannt oder Zucker in den Motorradtank geschüttet? Wir haben es nie erfahren.

Ich saß beim Klassentreffen neben einem ehemaligen Mitschüler, der während der Schulzeit als Hinterstubenmarxist galt, und erzählte ihm freimütig von meinen politischen Aktivitäten, die nicht alle völlig legal waren. Dann fragte ich ihn, was er denn so mache. „Ich bin Staatsanwalt geworden“, sagte er. Da hatte ich für immer genug von solchen nostalgischen Zusammenkünften.

Eine Mary Burdett aus der englischen Grafschaft Kent hatte ebenfalls wenig Freude an ihrem Klassentreffen. Weil sie die Organisatorin war, hatte sie es sich auch noch selbst eingebrockt. Die Sache verlief zunächst völlig reibungslos, die meisten sagten zu, einige reisten sogar aus den USA und aus Australien an.

Das Klassentreffen sollte, wie traditionell in England üblich, in der alten Schule stattfinden. Daraus wurde nichts. Die Stadtverwaltung hatte das Gebäude fünf Tage zuvor abreißen lassen, um an der Stelle eine Wohnsiedlung zu bauen. Manche der ehemaligen Schüler klaubten einen Ziegelstein als Andenken auf, doch die von weit her Angereisten waren ziemlich wütend auf Burdett.

„Ich wünschte, sie würden meine alte Schule auch abreißen“, sagt Julie. „Dann fiele das Treffen ins Wasser, und ich sparte jede Menge Geld.“ Ihre Schule liege doch nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt, wende ich ein, das koste doch nur einen Busfahrschein. „Von wegen“, meint Julie. „Ich muss wochenlang ins Fitness-Studio, dann zum Friseur und zur Maniküre. Ich will mich doch nicht blamieren. Vor allem nicht vor denen, die ich damals schon nicht mochte.“

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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kari

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