Ein Jahr Beitritt der Krim zu Russland: Eine beschwerliche Reise

Wie hat sich das Leben auf der zur Ukraine gehörenden Halbinsel verändert, seit sie russisch wurde? Unsere Autorin traf Menschen auf der Krim.

Er feiert, andere hingegen nicht: bei den Festivitäten zum 1. Jahrestag der Abspaltung der Krim von der Ukraine am 16. März in Simferopol. Bild: imago/Itar-Tass

SIMFEROPOL taz | „Endstation, alles austeigen!“, tönt es im Zug Kiew–Simferopol. Aber in Wirklichkeit hält der Zug nicht in Simferopol, sondern in Nowoaleksijiwka, dem letzten Städtchen auf der ukrainischen Seite. Bis Simferopol sind es noch 160 Kilometer. Die Menschen, die auf den Bahnsteig strömen, werden von Taxifahrern regelrecht umworben. Das Wetter ist grauenvoll, ein paar Grad über null, der Regen gefriert zu Eis. Etwa hundert Personen machen sich mit Bussen oder Taxis auf den Weg zu einem Grenzposten. Nur die mutigsten trauen sich die Grenze zu Fuß zu passieren.

Ich bin auch dabei. Die Kofferräder bleiben immer wieder im Schlamm stecken. Jetzt verstehe ich, warum hier robuste Schuhe und Kleidung im Einsatz sind. Nachdem wir fünf Kilometer Pufferzone über die verminte Brücke (Sicherheitsmaßnahme, versteht sich!) zurückgelegt haben, erblicken wir endlich die lang ersehnte Aufschrift „Krim“.

Das Prozedere der Grenzüberquerung ist festgelegt: Erst zehn Passanten, dann drei Pkws, anschließend ein paar Laster – allein davon zähle ich 224 Stück. Also stehe ich, dem eisigen Wind preisgegeben, im offenen Feld und warte, bis ich in die erträumte 10er Gruppe aufgenommen werde. Eine Stunde, zwei … Zuerst warten die Menschen geduldig. Dann aber, wenn in den Koffern nichts mehr ist, was sie sich noch überziehen könnten, wird der Unmut laut. Der eine flucht über „neue Machtinhaber“, der andere schwärmt von der leckeren billigen Wurst, die er vom Festland eigentlich als Souvenir mitgebracht hat.

Nach dem Grenzübertritt geht es weiter mit dem Taxi. Erst neun Stunden nach der Ankunft in Nowoaleksijiwka, kommen die Menschen endlich in Simferopol an, verdreckt, hungrig und todmüde. Der Bahnhof hier ist gespenstig leer, nur einzelne verrostete Güterwagen stehen herum. Auf den ersten Blick hat sich in der Stadt im letzten Jahr nicht viel getan, bis auf die Fahnen, die jetzt drei- statt zweifarbig sind. Aber wer genauer hinguckt, sieht, dass sich das Leben grundlegend geändert hat.

Einkaufen: In den Läden kann man immer noch viele ukrainische Waren kaufen, nur sind die Preise im Durchschnitt um 100 Prozent gestiegen. Manche Waren gibt es gar nicht mehr. Lange Einkaufsschlangen gehören wieder zum Alltag. Wenn jemand aufs Festland fährt, bekommt er Bestellzettel von Verwandten und Freunden.

Telefonieren: Ukrainische Mobilanbieter sind aus der Krim verdrängt worden. Der einzige Anbieter ist ein kleiner russischer Ableger, der mit dem großen Anbieter MTS-Russland eng verbunden ist. Wegen der Sanktionen hat kein großer russischer Mobilfunkanbieter offiziell seine Arbeit auf der Krim angefangen.

Geld abheben: Die Situation der Banken ist ähnlich. Die kleinen regionalen Banken arbeiten mit Einschränkungen. Faktisch gibt es keine Möglichkeit, von der Krim aus Geldüberweisungen in andere Länder zu tätigen. Dafür muss man aufs Festland. Visa- und Mastercard-Bezahlung ist seit einem halben Jahr nicht mehr möglich.

Verkehr: Nur vom Flughafen in Simferopol kommt man direkt ins Ausland. Bei günstigem Wetter kann man mit der Fähre aus Kertsch nach Russland fahren. Doch die Kapazitäten für Passagiere und Güter sind gering.

Strom- und Wasserversorgung: Beides, Strom und Wasser, kommt immer noch vom ukrainischen Festland. (am)

„Ich muss lernen, hier zu überleben“

Emile, die in Wirklichkeit anders heißt, ist Krimtatarin und unterrichtete zuletzt Ukrainisch an einer Schule. Im August teilte ihr der Schuldirektor mit, dass er sie so nicht mehr beschäftigen kann. Ihr fehlte vermutlich der Mut, aufs Festland zu ziehen, sagt sie. Es sei nicht so einfach, ein neues Leben aufzubauen. Außerdem seien ihre Eltern hiergeblieben. „Das heißt nicht, dass ich alles, was hier passiert, einfach hinnehme, das werde ich auch niemals tun. Aber ich muss lernen, hier zu überleben“, sagt sie.

Emile nimmt jetzt an einem Umqualifizierungskurs teil. In einem Jahr bekommt sie das Diplom einer Russischlehrerin. Bis dahin unterrichtet sie an ihrer alten Schule Wirtschaftslehre. Vor ihr sitzen dieselben Kinder wie zuvor.

Ortswechsel, 8. März: Der Strand von Aluschta ist voller festlich gekleideter Menschen. Der Internationale Frauentag zählt nach wie vor zu den beliebtesten Highlights des Jahres. Von überall hört man Russisch mit typischem Moskauer Akzent, ein Akkordeonspieler gibt populäre Sowjetschlager zum Besten, die Passanten werfen ihm Münzen zu. Alles strahlt Ruhe und Wonne aus, nur das stürmische Meer kratzt am idyllischen Bild.

Eines der vielen Strandcafés ist überfüllt. Fast scheint es, als wäre die These der touristenfreien Krim eine Verleumdung. Ich vernehme ein paar Fetzen, die mich aufhorchen lassen. „Es ist ein wahres Märchen hier! Ich fühle mich zurück in die Krim meiner Jugend versetzt. Welch Glück, dass wir diese Rabatttickets hierher ergattert haben!“ Ich schaue genauer hin. Eine Oma stolziert eingehakt bei ihrem Mann an mir vorbei. Plötzlich kapiere ich, dass all diese Flaneure, all die Touristen lauter solche Omas und Opas sind.

Alexander arbeitet seit zehn Jahren als Journalist auf der Krim. Er ist einer der wenigen, die nach der Krim-Annexion ihre Arbeit hier fortgesetzt haben. Sein Verlag wurde im März, im Zuge der Besetzung der Stadtverwaltung, geschlossen. Die Belegschaft wurde als Verräter und Agenten westlicher Spezialdienste verschrien. „Ich kann hier nicht einfach wegfahren und die Menschen im Informationsvakuum zurücklassen. Ich versuche weiterzumachen, obwohl es mit jedem Tag schwieriger und gefährlicher wird.“

Die letzte ukrainische Aktion auf der Krim

Am 9. März findet in Simferopol ein traditionelles Treffen zu Ehren des Geburtstages des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko statt. Vor einem Jahr sind zu dieser Veranstaltung ungewöhnlich viele Menschen zusammengekommen. Bis zu dem „Referendum“ blieb damals nur eine Woche, die Leute wollten ihre Sorge und Solidarität zum Ausdruck bringen. Allen war klar, dass es sich um die letzte ukrainische Aktion auf der Krim handelte. In diesem Jahr wurde den Organisatoren die offizielle Genehmigung verwehrt. Es sind trotzdem 20 bis 30 Teilnehmer gekommen.

Schließlich wurden drei Aktivisten verhaftet. Die Begründung: Gebrauch verbotener Symbolik – dazu zählen auf der Krim heutzutage bereits ukrainische Fahnen. Die Aktivisten haben Zivilstrafen bekommen, die Arbeitsstelle des Organisators Leonid Kusjmin wurde „wegen der Verstöße gegen die Werte des russischen Staates“ gekündigt.

Die Mehrheit der Krimbewohner ahnt nicht einmal, was sich auf der Krim tatsächlich abspielt, und zwar aus dem einfachen Grund: Die Medien berichten entweder gar nichts darüber berichten oder spielen es herunter. Die Leute werden von anderen Sorgen geplagt, wie etwa eine medizinische Versicherung abzuschließen, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen funktionierenden Mobilfunkanbieter zu finden. Die russischen Strukturen haben sich tief in der Krim-Wirklichkeit eingenistet, aber vom alten Komfort im Alltagsleben oder gar von Verbesserungen kann keine Rede sein.

Die Euphorie ist gewichen

Erstaunlich, wie rasant sich die Meinung der Menschen gewandelt hat. Immer öfter hört man zaghafte Repliken wie „In der Ukraine war es besser“ – „Früher musste ich nicht jede Kopeke zweimal umdrehen“ oder „Früher konnte ich von meiner Rente noch etwas zurücklegen, jetzt reicht es gerade mal für drei Wochen“. Aber bereits im nächsten Augenblick hört man die gleichen Menschen wieder TV-Floskeln nachsprechen: „Wir haben mit der Ukraine getrennte Wege, denen geht es jetzt viel schlimmer“ oder „Hauptsache, wir haben keinen Krieg. Danke dafür, Russland!“ Die Euphorie ist gewichen. Breitgemacht hat sich die russische Wirklichkeit, die sich von der ukrainischen nicht sonderlich unterscheidet.

Der Krimtatar Dhemil trägt gerade den Putz an der Mauer seines Hauses auf, als wir uns ihm nähern. „Schon wieder diese Journalisten!“, brummt er auf unsere Begrüßung zurück. „Was habt ihr hier alle vergessen? Zahnlos und zungenlos, wie ihr seid, ihr könnt doch gar nichts machen.“ Dhemils Haus steht am Rand von Simferopol mitten auf einem Feld, wo Krimtataren vor ein paar Jahren Häuser ohne Baugenehmigung errichtet haben. Laut Gesetz müssen sämtliche Bauten ohne Genehmigung abgetragen werden.

Als ich ihn darauf anspreche, wird er wütend: „Unsere Häuser abtragen? Nur über meine Leiche! Ich habe an diesem Haus mein ganzes Leben lang gebaut. Ich habe zwei Töchter, sie müssen mit ihren Familien irgendwo leben. Wenn die Machtinhaber einen solchen offenkundigen Terror gegen uns entfesseln, werden wir uns wehren müssen.“

Derweil laufen die Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten zum Anlass des Krimbeitritts auf Hochtouren. Zum 1. Jahrestag des „Referendums“, der zu einem Feiertag erklärt wurde, ist eine Parade geplant. Den Klassenlehrern ist nahegelegt worden, Spezialveranstaltungen zu diesem Thema zu organisieren und Vertreter der Bürgerwehr einzuladen, damit sie den Kindern erzählen können, wie alles vor einem Jahr gelaufen ist.

Auf der Krim gibt es zwei Wirklichkeiten: Menschen, die mit ihren Alltagsproblemen ringen, und Menschen, die in ständiger Angst leben, dass sie die nächsten sein können, die abgeholt werden.

Früh morgens weckt mich Alexander mit einem Anruf. Er erzählt mir, dass der Russische Sicherheitsdienst FSB gerade bei einer Kollegin, die so wie er nicht aufs Festland gezogen ist, eine Hausdurchsuchung macht. Sie ist verhaftet worden. Alexander sagt, er sei als Nächster dran.

Aus dem Russischen: Irina Serdyuk

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