Kulturgeschichte des Humus: Aus Scheiße Rosinen machen

Exkremente sind wichtig für die Agrikultur, bemerkte schon Karl Marx. Nur weiß das in westlichen Ländern kaum noch jemand.

Wohl dem, der den Wert der Jauche zu schätzen weiß. Bild: dpa

„Die Düngestoffe des Menschen, der überwiegend auf große Städte konzentriert ist, werden verbrannt, vernichtet, besonders aber durch Kanäle und Flüsse fortgespült,“ schrieb der Biosoph Ernst Fuhrmann 1912 in einer kleinen Schrift über die Menschen und ihre Scheiße. Damals wurden in Berlin die Abwässer in Kanäle geleitet und über zwölf Pumpwerke auf Rieselfelder vor der Stadt verteilt, deren Wälle und Gräben man noch heute sieht. Sie wurden nach einer gewissen Zeit abschnittsweise bewirtschaftet – unter anderem baute man dort Gemüse an.

Fuhrmann erwähnt die damalige Kritik an dieser Form der Entsorgung: Die Pflanzen würden schlecht gedeihen und schlecht schmecken. Er gibt jedoch zu bedenken, dass dieses Verfahren noch keine Umwandlung von Dung in Humus ist. Als die Nazis die Schrift des inzwischen exilierten Autors raubdruckten, zeigten sie darin bereits den Fortschritt: Einen Aufriss des 1931 gebauten Berliner Klärwerks in Stahnsdorf, das es noch heute gibt.

Von den sechs Klärwerken der Stadt besitzt jedoch keins eine „Klärschlammvererdungsanlage“, so dass die Trockenmasse in den Faultürmen, wo sie zunächst mit bakterieller Hilfe Methan freisetzt, am Ende verbrannt wird, somit jedoch noch mal Strom liefert. Die Klärwerke decken dadurch zwar 50 Prozent ihres Eigenbedarfs, aber Humus wird aus der Scheiße nicht. Man sagt, das sei auch nicht erwünscht, denn der Klärschlamm enthalte Schwermetalle, Medikamentenrückstände, unliebsame Keime…

Neuerdings hat man sogar Gold darin entdeckt. Eine EU-Verordnung besagt: Wenn die Klärschlämme hinsichtlich des Schadstoffgehalts die Vorschriften erfüllen und hinsichtlich der Nährstoffgehalte den Vorgaben der Düngemittelverordnung entsprechen, dürfen sie auf die Äcker gebracht werden, auf Grünland und Gemüseanbauflächen dagegen nicht. 90 Prozent der weltweit anfallenden Scheiße wird ungeklärt in Gewässer geleitet. Allein in Indien sind das 26 Milliarden Liter täglich. Hinzu kommt noch, dass dort der wertvolle Kuhdung zum Heizen verwendet wird: Zwei Millionen Tonnen täglich. Bis zu ihrer Elektrifizierung wurde im übrigen auch auf den friesischen Halligen mit getrockneten Kuhfladen (Ditten) geheizt.

Anders in China, Korea und Japan. Diese drei Agrarländer, deren Bevölkerung sich weitgehend vegetarisch ernährt, wandeln seit Jahrtausenden ihre Fäkalien wertschöpfend in „Muttererde“ um. Bis zur Revolution gab es in China Leute, die den Städten für viel Geld ihre Fäkalien abkauften. Sie wurden auch portionsweise auf Märkten verkauft. Auch auf dem Land wurde jeder Scheißhaufen aufgesammelt. Landarbeiter mussten sich verpflichten, die Latrine des Gutsbesitzers zu benutzen. Anfang der Fünfzigerjahre entstanden dort die ersten Biogasanlagen auf Basis von Fäkalien.

Großer Misthaufen, glücklicher Bauer

Während der Kulturrevolution übernahmen „freiwillige Brigaden“ Transport und Verteilung. Wissenschaftler, die man damals aufs Land schickte, wurden von den Kommunen gelegentlich zum Scheißesammeln auf den Landstraßen eingesetzt – eine Tätigkeit, die viele als besonders demütigend ansahen, was die Bauern als arrogant empfanden. Wer den Wert dieses kostbaren Düngers zu schätzen weiß, dem stinkt er nicht! Früher war der Landwirt mit dem größten Misthaufen auch hierzulande noch stolz darauf. Jetzt zwingen ihn die aufs Land gezogenen Städter, den Mist wegen des Gestanks und der Fliegen auf dem Feld zu lagern.

Die modernen Bürger zahlen immer mehr für die Entsorgung ihrer Exkremente, schreibt der Berliner Autor Florian Werner in seiner „Geschichte der Scheiße: Dunkle Materie“ (2011): „Scham und Ekelgefühle setzten sich gegenüber den Geldinteressen durch – ein in der Geschichte der westlichen Zivilisation vielleicht einmaliger Vorgang.“

Dabei wusste man schon in der Antike, das der „Menschenkot“ ein hervorragender Dünger ist. Mit der Renaissance wurden dann auch erneut Fäkalien zur Bodenverbesserung eingesetzt. Noch im 19. Jahrhundert versteigerte die Stadt Karlsruhe laut Werner ihre Fäkalien meistbietend an die örtlichen Landwirte. Pferdemist wurde auch später noch von Schrebergärtnern hoch geschätzt – aber dann verschwanden die letzten Brauereipferde.

In den USA war der Humusverlust in der industrialisierten Landwirtschaft und mit Rodung des Präriegrases um die Jahrhundertwende so weit fortgeschritten, dass die Bodenkundler des Landwirtschaftsministeriums 1909 eine Forschungsreise nach China, Korea und Japan unternahmen.

Der Bericht ihres Leiters Franklin H. King „4000 Jahre Landbau“ ist inzwischen ein Klassiker. Die US-Agrarforscher halten die „landbaulichen Verfahren“ der Chinesen, Koreaner und Japaner, mit denen sie „jahrhundertelang, praktisch lückenlos, alle Abfälle gesammelt und in bewundernswerter Art zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und Erzeugung von Nahrungsmitteln verwertet haben, für die bedeutendste Leistung der drei Kulturvölker.“

Vom Dung zum Erhabenen

In Deutschland hingegen gehen in der Landwirtschaft im Durchschnitt pro Jahr und Hektar zehn Tonnen fruchtbarer Boden durch Erosion und Humusabbau verloren. Dem gegenüber steht ein jährlicher natürlicher Bodenzuwachs von nur etwa einer halben Tonne pro Hektar. Weltweit sind es mehr als 24 Milliarden Tonnen, die jährlich durch Erosion abgetragen werden.

Mancher Bauer denkt, Kuhdung statt Kunstdünger wäre schon bio – der kurze Weg vom Dung zum Erhabenen. Zur Humifizierung biologischer Abfälle gehört jedoch weitaus mehr. Das wusste auch die Mikrobiologin Annie Francé-Harrar, die ihre Forschungen über Bodenorganismen bereits in den Zwanzigerjahren veröffentlichte.

„Wir stehen vor einem Abgrund, denn Humus war und ist nicht nur der Urernährer der ganzen Welt, sondern auch der alles Irdische umfassende Lebensraum, auf den alles Lebende angewiesen ist.“ Um den Humus zu erhalten, müssen wir die Mikroorganismen im Boden, die ihn schaffen und von denen die Pflanzen abhängen, von denen wiederum wir abhängen, studieren und kennen, um sie bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen und nicht – wie jetzt noch – permanent behindern: „Seit Jahrhunderten haben wir unsere Böden kaputt gemacht.“

Rückgang der Wälder

Während die Mikrobiologin die Ursache des zunehmenden Humusverlusts vor allem im Rückgang der Wälder und der damit zusammenhängenden Bodenerosion sah, hält die Tierärztin Anita Idel die Reduzierung von Weideland und damit die Zerstörung der Verbindung, der „Ko-Evolution“, von Gras und Wiederkäuer für die Ursache.

Ein Schutz der Graslandschaften – Steppen, Savannen, Prärien, Tundren und Pampas – durch nachhaltige Beweidung erhalte deren noch weltweit größte Kohlendioxid-Speicherkapazität und trage wesentlich zur Humusbildung bei, schreibt sie in ihrem Buch „Kühe sind keine Klimakiller“ (2010).

In Europa weiß man seit Homer, dass und wie Arkadiens Wälder für den Schiffsbau vernichtet wurden. 400 Jahre später beschrieb Platon in seinem „Kritias“ die Folgen: Durch Erosion und Humusschwund „übriggeblieben sind nun im Vergleich zu einst nur die Knochen eines erkrankten Körpers, nachdem ringsum fortgeflossen ist, was vom Boden fett und weich war, und nur der dürre Körper des Landes übrig blieb.“

Als Immer-noch-Griechen kümmern wir uns aber lieber um den eigenen Körper: „Feuchtgebiete“ nannte Charlotte Roche ihren Roman, der unter anderem von Analerotik und Exkrementophilie handelt. „Darm mit Charme“ hieß 2014 ein Bestseller von Giulia Enders, in dem es darum geht, dass der halbe Kreislauf vom Essen zur Scheiße funktioniert – die andere Hälfte, der unterbrochene Kreislauf von der Scheiße zum Essen, bleibt gewissermaßen außen vor.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.