Der Schlüssel zum Pogrom

Wilhelm Solms, Mitgründer der Gesellschaft für Antiziganismusforschung und Literaturwissenschaftler, über dämonisierende und romantisierende Bilder von Sinti und Roma in Romanen, Märchen und in der Gesellschaft

Ein Staatsvertrag von 2013 sieht vor, dass Sinti und Roma ein Recht auf die Förderung ihrer Kultur haben

VON GABRIELE GOETTLE

Wilhelm Solms, Literturwissenschaftler, seit 1977 Prof. f. Neuere deutsche Literatur u. Mediendidaktik an d. Philipps-Univerität Marburg. 2001 emeritiert. Er studiert Germanistik u. Musikwissenschaft an d. Univ. München u. an d. Hochschule f. Musik in Wien. Promotion mit Studien zu Goethes „West-östlicher Divan“. Seine Forschungs- u. Publikationsschwerpunkte sind d. Literatur d. 19. Jahrhunderts, Goethe, Grimms Märchen, Zigeunerbilder in d. Literatur u. Antiziganismus. Er war 1998 Mitgründer d. „Gesellschaft für Antiziganismus-Forschung“, seit 2002 ist er Vorsitzender. Wilhelm Solms wurde 1937 in Lich/Oberhessen geboren. Sein Vater war Land- u. Forstwirt auf dem Familienbesitz (1940 im Krieg gefallen ), die Mutter übernahm dann seine Aufgaben. Wilhelm Solms ist verheiratet mit einer Ärztin u. hat vier Kinder.

Ich treffe Herrn Solms in einem Hotel in Berlin, wo er sich für ein paar Tage aufhält, um die Gedenkstätte Sachsenhausen und die dortige Ausstellung über das Schicksal der ermordeten Sinti und Roma zu besuchen. „Der Antiziganismus“, sagt er, „reicht ja von einfachem Misstrauen, Ablehnung, Ausgrenzung und Vertreibung bis hin zur Verfolgung, Deportation und Vernichtung der ‚Zigeuner‘ durch die Nazis.“ Ich möchte gerne wissen, wie er zur Antiziganismusforschung kam. Er schlägt elegant die Beine übereinander und erzählt:

„Ich habe Ende der achtziger Jahre in Marburg eine Ringvorlesung organisiert, und da habe ich u. a. auch Herta Müller eingeladen und ich war unglaublich bewegt von ihrer Lesung. Ein Jahr später, Ende Oktober 1989, haben wir dann eine große Tagung gemacht über die rumäniendeutsche Literatur, vor allem über die Aktionsgruppe Banat. Die Schriftsteller haben über die politische Situation in Rumänien aufgeklärt, über Verfolgungen, Verhaftungen, Folter, angebliche Suizide. Herta Müller erzählte von dem ungeheuer brutalen Vorgehen der Securitate, des rumänischen Geheimdienstes unter Ceausescu. Und dann bin ich mit ihr nach Rumänien gefahren, im März 1990, wir haben dort verschiedene Interviews gemacht. Wir waren in Temeschwar, in Brasov, also Kronstadt, Hermannstadt usw., und während dieser Reise wurde ich auf das „Zigeunerproblem“ aufmerksam. Beispielsweise waren wir in einer chemischen Fabrik. Wir wollten Fotos machen. Es hat so unerträglich gestunken, uns wurde sofort schlecht. In dieser desolaten Fabrik haben nur Roma gearbeitet unter miserabelsten Bedingungen. Sie wurde später stillgelegt.

Dann war ich in Bukarest, und da hat ein kleiner Junge gebettelt, er hat an meiner Jacke gezerrt, er war sehr lästig. Ich wollte mich schon aufregen, dann sagte ich mir: Moment mal! Ich habe ihm etwas Geld gegeben und bin ihm dann eine Stunde lang in einigem Abstand gefolgt. Was ich da gesehen habe, das war sehr brutal. Die Erwachsenen, Männer wie Frauen, haben ihm den Ellbogen ins Gesicht gerammt, ihn weggestoßen, getreten, angespuckt. Er hat das alles scheinbar gleichgültig hingenommen. Es war seine alltägliche Erfahrung. Also wie dieses Kind behandelt wurde, hat mich sehr erschüttert. Ich konnte das nicht vergessen. Als ich wieder in Deutschland war, hat Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, einen Aufruf gestartet zum Dialog. Dazu gab es eine Tagung im Taunus. Ich habe teilgenommen, auch Ines Köhler-Zülch. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Enzyklopädie des Märchens und ist die Frau von Tilman Zülch, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für bedrohte Völker – der zu den wichtigsten Wegbegleitern Romani Roses gehört. 25 Sinti haben an der Tagung teilgenommen und nur drei Nichtsinti. Ich hatte auch noch mein Manuskript zu Hause liegen lassen und musste frei sprechen, was natürlich Anlass zum Witzeln war, denn die Sinti haben ja eigentlich die Tradition der rein mündlichen Überlieferung. Aber ich war gut vorbereitet, und es ging tadellos.

Die Moral von der Geschicht

Damals war ich Vizepräsident der Europäischen Märchengesellschaft. Sie veranstaltet u. a. Fachtagungen und fördert die Kunst des Märchenerzählens. Ich habe dann eine Tagung gemacht und das Thema ‚Zigeunermärchen‘ gewählt, um vor allem die Märchenerzählerinnen anzulocken. Ich habe den Unterschied erklärt zwischen authentischen, von Roma mündlich erzählten Geschichten und den ‚Zigeunermärchen‘. Bei Letzteren gibt es nämlich ‚die Moral von der Geschicht‘, am Schluss angehängt, man nennt es das Epimythion. Und man muss fragen: Ist die Moral der Geschichte die Moral, die sich konsequent aus der erzählten Geschichte ergibt? Bei sehr vielen Märchen ist die Antwort: nein. Woraus bezieht also dann die Moral ihr Urteil? Sie ist das Ergebnis des Vorurteils des Aufzeichners, Bearbeiters, Übersetzers, der die von Roma erzählten Märchen also verfälscht hat. Diese Verfälschung und die Vorurteile werden eben immer weitergegeben, auch von unseren Märchenerzählerinnen. Der Daniel Strauß und andere haben dann Lehrerhandreichungen geschrieben, damit das auch im Unterricht Eingang findet. Dann hatten wir eine Podiumsdiskussion mit Lektoren und haben tatsächlich erreicht, dass der Rowohlt Verlag seine „Zigeunermärchen“ eingestampft hat.

Man hat sie ersetzt durch eine vierbändige Ausgabe von Märchen. Sehr berühmt sind die Märchen von Lajos Àmi (1886–1963). Er war der größte Märchenerzähler Ungarns und zugleich einer der wenigen bekannt gewordenen ‚Zigeuner-Erzähler‘. Lesen und schreiben hatte er nie gelernt, seinen großen Schatz an Märchen hat er in seinem Gedächtnis aufbewahrt. Erwähnen müssen Sie auch noch den besonders in Schweden berühmten Johan Dimitri Taikon (1879–1950), einen schwedischen Rom – er konnte 300 Zaubermärchen auswendig, Hunderte von Anekdoten. Wo er hinkam, so die Berichte, war es wie ein Volksfest. Er hat hinterher Geld gesammelt und es gespendet für Bildungseinrichtungen seiner Leute. Ich habe dann auch Seminare mit Studierenden zum Thema gemacht.

Der direkte Austausch mit Sinti und Roma war mir immer sehr wichtig. Ich habe Daniel Strauß kennengelernt, ein großartiger Mensch. Unsere Zusammenarbeit ist optimal. Er hat im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gearbeitet, und es hat sich eine gute, freundschaftliche Beziehung entwickelt. Sein Vater hatte einen Zirkus, ein Karussell betrieben. Sie sind viel umhergereist, und der Daniel war deshalb in zwanzig verschiedenen Grundschulen und hat nur die Hauptschule absolviert. Aber was der leistet, was der kann und weiß, das ist enorm, der steckt so gut wie jeden Wissenschaftler in die Tasche, jeden Politiker sowieso! Er ist Vorsitzender des Landesverbandes der Sinti und Roma von Baden-Württemberg und macht sehr gute politische Arbeit. Es gibt zwei namhafte Sinti in Deutschland. Der eine ist Daniel Strauß, der andere ist Romani Rose. Daniel Strauß und ich haben in all den Jahren viel zusammen gemacht, zum Beispiel RomnoKher gegründet, ein Kulturhaus in Mannheim für Bildung und Antiziganismus. Es wurde 2007 eröffnet. Vor einem Monat hat es eine Kulturwoche veranstaltet, und da wurde auch zum ersten Mal an mehrere Personen der „Schnuckenack Reinhardt“-Preis verliehen. Auch mir wurde diese Ehre zuteil. Der Franz „Schnuckenack“ Reinhard (1921–2006) war Geiger und Komponist, sehr populär. Er war ein Vetter von Django Reinhard.

Tsiganologie

Und Daniel Strauß und ich, wir haben auch zusammen 1998 die erste Gesellschaft für Antiziganismusforschung in Deutschland gegründet, weil das Dokumentationszentrum ausschließlich Dokumentation des Völkermordes macht. In der Gesellschaft haben sich dann Antiziganismusforscher aus verschiedenen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Politologie, Pädagogik, Europäische Ethnologie und Literaturwissenschaft zusammengefunden. Wir alle arbeiten ehrenamtlich. Ich habe zuvor darum gekämpft, die Antiziganismusforschung an der Universität zu etablieren, so wie es ja auch die Antisemitismusforschung gibt in Berlin. Wir haben gesagt, das ist eine historisch fundierte, interdisziplinäre Wissenschaft. Die damalige Kultusministerin von Hessen war meine Fürsprecherin, sie war dreimal beim Rektor, hat auf die schlimme Vergangenheit der Uni Marburg hingewiesen, an der ja die führenden Köpfe der Euthanasie lehrten. Dreimal gab es eine Ablehnung. Aber wir haben es auch alleine geschafft. Wichtig ist noch zu sagen, worum es bei der Antiziganismusforschung geht: Nicht die Sinti und Roma sind das Objekt der Forschung – wie bei der Tsiganologie, der ‚Zigeunerforschung‘, die an rassistische Forschung anknüpft – Objekt der Forschung ist die negative Einstellung der Mehrheitsbevölkerung den Sinti und Roma gegenüber (weiterführende Informationen: www.antiziganismus.de, Anm. G. G.).

Also man kann nichts werden mit Antiziganismusforschung, das zeigt sich auch am Beispiel von Udo Engbring-Romang. Ein unglaublich guter Mann, sehr verdienstvoll! Er ist Historiker, hat ein Standardwerk verfasst und ist so hoch qualifiziert, dass sie ihn rausgeboxt haben. Er ist nicht Professor geworden. Hat jetzt eine halbe Stelle an der Volkshochschule. Manchmal allerdings gibt es auch kleine Fortschritte. Der Daniel Strauß hat zum Beispiel erreicht, dass Baden-Württemberg einen Staatsvertrag geschlossen hat, als erstes Bundesland bisher. Als Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma hat er zusammen mit dem Ministerpräsidenten Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) 2013 einen Staatsvertrag unterzeichnet. Und dieser Staatsvertrag erkennt nicht nur an, dass Sinti und Roma seit mehr als 600 Jahren in diesem Land leben, sondern auch, dass sie als geschützte Minderheit – ebenso wie deutsche Friesen, Dänen, Sorben – ein Recht auf die Förderung ihrer Kultur und ihrer Sprache, der Romanes, haben. Und das ist nicht nur eine Versicherung, das ist auch eine Verpflichtung! Die fördern jetzt Forschungen über die Kultur der Sinti und Roma und über den Antiziganismus. Und auch diese Kulturwoche unlängst konnte mit den Mitteln des Staatsvertrags vom November 2013 realisiert werden.

Wir müssen uns aber darüber klar sein, dass in der Gegenwart Fremdenfeindlichkeit und Antiziganismus wieder stark zugenommen haben. EU-Länder sträuben sich gegen die Zuwanderung osteuropäischer Roma aus den neuen Mitgliedsländern – auch von ‚Zigeunerflut‘ ist die Rede – obgleich sie lediglich ihr Recht als EU-Bürger auf Freizügigkeit wahrnehmen. Sie werden unter Generalverdacht gestellt, kriminalisiert, als Betrüger, Bettler, Sozialschmarotzer gekennzeichnet und nach Möglichkeit abgeschoben. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es eine völlige Gleichgültigkeit gibt, gegenüber den elenden Lebensbedingungen der osteuropäischen ‚Zigeuner‘, die mit dem Untergang des Kommunismus massenhaft Arbeit und Lebensgrundlagen verloren haben. Ungerührt wurde 1998 die Vertreibung der Roma und Aschkali aus dem Kosovo bei uns hingenommen. Ebenso desinteressiert wird heute die Rückführung von Roma registriert. Herr Kretschmann, der eben noch, wie erwähnt, den Staatsvertrag unterschrieb, hat die Abschiebung zahlreicher abgelehnter Asylbewerber, in der Mehrheit Roma, nach Serbien und Mazedonien gerechtfertigt. Die entsprechende Gesetzesänderung war aber erst durch seine Zustimmung im Bundesrat zur Reform des Asylrechtes möglich geworden. Die beiden Westbalkanstaaten gelten – wie auch Bosnien-Herzegowina – seit Anfang November 2014 als „sichere Herkunftsländer“, und damit stand der Sache nichts mehr im Wege, obgleich in diesen Ländern die Roma massiver Diskriminierung und Verfolgung unterworfen sind.

Goethes Toleranz

Vor Diskriminierung sind sie allerdings auch bei uns nicht sicher. Letzte Umfragen in Deutschland haben eine offene Ablehnung von Sinti und Roma bei mehr als 50 Prozent der Bevölkerung ergeben. Dabei wissen die Leute nicht mal, dass Sinti seit der Aufklärung einen festen Wohnsitz bei uns haben. Man muss sich das mal vorstellen: Mehr als 80 Prozent der befragten Sinti bei uns klagen über Diskriminierungserfahrungen! Die Studie von Markus End – ‚Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit‘ – ist 2014 vom Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma veröffentlicht worden und sie beleuchtet auch die Berichterstattung in den deutschen Medien und im Internet. Qualitätsmedien ebenso wie Boulevardmedien verbreiten regelmäßig durch diskriminierende Berichte Vorurteile über Sinti und Roma. Auch die meist stereotype Bildauswahl bedient eifrig die antiziganistischen Vorurteile. Antiziganismus ist in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Er unterliegt nicht – ganz im Gegensatz zum Antisemitismus – der Political Correctness, sondern er äußert sich weitgehend selbstverständlich und ganz offen. Niemand hat etwas zu befürchten, wenn er sich negativ äußert. Antiziganismus ist eine Ideologie, und sie wird dann gefährlich, wenn ihr Nahrung gegeben wird. Wenn zum Beispiel die Regierung beschließt, dass unsichere Herkunftsländer sicher sind.

Die Forderung nach Toleranz genügt nicht. Ich halte mich da an Goethe. Der sagt: ‚Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.‘ Toleranz kann jederzeit in Intoleranz umschlagen. Und ich sage deshalb, der Staat ist dafür verantwortlich, er hat dafür zu sorgen, dass alle Individuen seinen Schutz genießen, anerkannt und geachtet werden.

Die Verbunkos-Musik

Deutschland ist es den Toten und Überlebenden schuldig, sie mit besonderer Sorgfalt zu schützen. Und eine der Möglichkeiten, das für Sinti und Roma umzusetzen, ist beispielsweise das Kennenlernen ihrer großen Kultur und ihrer Leidensgeschichte, die zugleich unsere Geschichte ist, im Schulunterricht, an Universitäten usw. Ich habe das mit Erfolg in vielen Veranstaltungen vorgeführt. Und da zeige ich eben nicht nur ihre Musik, sondern auch unsere ‚Zigeunerbilder‘ in Musik und Literatur. Angefangen mit einem deutschen Volkslied, in dem sich so gut wie alle Klischees finden lassen. Jeder kennt es: ‚Lustig ist das Zigeunerleben … brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben …‘ Hinter dieser Verklärung des nackten Elends wird versteckt, dass sie herrenlos, rechtlos und vogelfrei sind. Für vogelfrei erklärt wurden sie aufgrund eines bloßen Gerüchts. Als die ‚Zigeuner‘ einwanderten, sind sie vor den Türken geflohen. Einer der Chronisten hat aber niedergeschrieben, die Türken hätten sie als Spione vorausgeschickt bei ihrem Vorstoß zur Eroberung des christlichen Abendlandes. Und dieser Vorwurf wurde aufgegriffen und führte ab 1498 zu den Beschlüssen des Reichstags, wo sie für vogelfrei erklärt und somit der Verfolgung und Tötung ausgeliefert wurden. Entsprechend sprunghaft nahmen die negativen Darstellungen in Sprichwörtersammlungen und Chroniken zu.“ (König Friedrich I. von Preußen erließ 1770 ein „Geschärftes Edikt wegen derer Zigeuner“ und ordnete an, alle festgenommenen Frauen und Männer ab dem 16. Lebensjahr sind zu hängen. Anm. G. G.) „Und wissen Sie, wie lange diese Erklärung, die sie zu Vogelfreien machte, Bestand hatte? Von 1498 bis 1860. Das Grundmuster der Verfemung, Dämonisierung und Verfolgung der Zigeuner zieht sich durch die Geschichte bis zur Gegenwart.

Ein Beispiel für Musik von ‚Zigeunern‘ möchte ich aber auch erwähnen. János Bihari (1764–1825), ein ungarischer Rom und berühmter Geiger, hat unglaublich viel komponiert. Er brauchte keine Noten, andere haben es aufgezeichnet. Er ist ein Beispiel dafür, wie stark die Kultur der Minderheit die der Mehrheit beeinflusst. Er wurde sogar 1814 eingeladen, um vor dem Wiener Kongress zu spielen. Er hatte enormen künstlerischen Einfluss. Aus der Verbindung von ungarischer Musik und der Musik der ‚Zigeuner‘ ist im 18. Jahrhundert die mitreißende Verbunkos-Musik entstanden, die nicht erst Liszt und Brahms, sondern schon Haydn, Mozart und Beethoven inspiriert hat. Sie hat den für die Wiener Klassik typischen Charakter der Diskontinuität, den abrupten Wechsel von Rhythmus, Lautstärke und Tempo, mit geprägt. Ebenso ist der Flamenco ursprünglich aus der Verbindung der andalusischen, der maurischen und der Gitano-Kultur entstanden. Ein weiteres Beispiel für die produktive Verbindung verschiedener Kulturen ist der mit dem Namen von Django Reinhardt verbundene Jazz-Gitan, er nutzt Elemente des afroamerikanischen Jazz, des Valse Musette, eines französischen Walzers, des andalusischen Flamenco und der osteuropäischen ‚Zigeunermusik‘.

Tanzende Zigeunerin

Über die ‚Zigeunermärchen‘ habe ich vorhin ja schon kurz gesprochen, über die authentischen und die verfälschten mit der angehängten Moral, die damit ein bestimmtes ‚Zigeuner‘-Bild transportieren. Auch in der Literatur gibt es zahllose ‚Zigeuner‘-Bilder. Das wohl bekannteste, das uns in vielen Gedichten und Erzählungen und auch auf vielen Kitschgemälden begegnet, ist das der tanzenden, leicht verhüllten Zigeunerin. So Cervantes’ Pretiosa, Goethes Mignon, Mérimées Carmen und Victor Hugos Esmeralda. Ein anderes tritt in Form des Tiervergleichs auf: Brentanos Mitidika ist schlank ‚wie ein brauner Aal‘, dagegen ähnelt ihre Großmutter einem ‚Stachelschwein‘. Raabes ‚Zigeuner‘ streckt ‚seine linke, braune Pfote aus‘, Löns verpasst einer ‚Zigeunerfigur‘ ein ‚Raubtiergesicht‘. Bei Hauptmann sind die Männer ‚aufdringlich wie Fliegen‘ und die Frauen verhalten sich wie ‚diebische Raben‘. Die ‚Zigeunerin‘ in Hesses ‚Narziss und Goldmund‘ sieht aus ‚wie ein Fuchs oder Marder […] mit Nachtaugen‘. In Bergengrüns Erzählung ‚Die Zigeuner und das Wiesel‘ heißt es vom Blick des Wiesels, er sei von ‚zudringlicher Neugier mit ängstlicher Scheu gepaart, wie es der Wiesel und Zigeuner Art ist‘. Und Schnurres ‚Zigeunerjunge‘ Jenö riecht wie ein Wiedehopf. Diffamierendes können wir auch im ‚Till Eulenspiegel‘ von Hauptmann lesen : ‚Braune Rangen, halbnackte, umstanden den Wagen des Gauklers, jeder Diebstahl im Blick‘. Und über die ‚Zigeunerinnen‘: ‚Vetteln kamen heran, die wie diebische Elstern sich lauernd nieder hockten.‘ Als Brentano, in dessen Werken ein ganzes Dutzend ‚schöner Zigeunerinnen‘ auftritt, 1810 in Böhmen mit Roma zusammentraf, schrieb er den Brüdern Grimm: ‚die Zigeuner sind alle zum Galgen reif und gar nicht romantisch‘. Die ‚Zigeunerbilder‘ sind ein dunkles Kapitel in der deutschen Literatur.

Es gibt eigentlich nur ganz wenige Beschreibungen, die man positiv nennen kann. Beispielsweise Grimmelshausen in seiner ‚Courage‘, wo er mit den Vorurteilen der Leser spielt , oder Kleist mit seiner Gerichtsnovelle ‚Michael Kohlhaas‘, da hat die ‚Zigeunerin‘ der Rolle der Dea ex Machina. Ganz toll! Und dann finde ich auch Günter Bruno Fuchs gut. Und Johannes Bobrowski, ‚Levins Mühle‘. Aber der Klassiker in den Schulbüchern ist eben leider ‚Jenö war mein Freund‘ von Wolfdietrich Schnurre, ein schlimmes Ding! Gut gemeint vielleicht, aber voller althergebrachter Klischees. Ganz schlimm aber ist auch Martin Walsers Drehbuch zum „Tatort“-Krimi ‚Armer Nanosh‘ von 1988. Der Kriminalroman erschien ein Jahr später und ist zurückgezogen worden. Aber der „Tatort“ wird immer wieder gezeigt. Ich habe mal was geschrieben über die dreizehn deutschsprachigen Nobelpreisträger, die es gibt. Neun davon haben über ‚Zigeuner‘ geschrieben. Da gibt es z. B. ‚Zigeunerfreunde‘, die verkitschen, wie Hesse. Und Grass gehört übrigens auch dazu, er ist zwar ein Unterstützer der Sinti und Roma, aber er hat auch seine Zigeunerromantik, spricht immer vom ‚europäischen Volk‘. Und es gibt ‚Zigeunerfeinde‘ wie Hauptmann, der ist ganz schlimm! Aber es gibt auch ganz andere, die bei der Realität bleiben, wie die viel geschmähte Elfriede Jelinek, die in ihrem Stück ‚Stecken, Stab und Stangl‘ den Rohrbomben-Mordanschlag auf Roma im österreichischen Oberrath sehr ausführlich thematisiert hat. Damals, 1995, sind vier Roma ums Leben gekommen. Und auch Herta Müller gehört dazu, sie hat schon in den 90er Jahren in der FAZ einen hervorragenden Artikel geschrieben über eine Reise durch Rumänien und die rumänischen ‚Zigeuner‘.

Zusammenfassend möchte ich sagen, sowohl die romantisierenden als auch die dämonisierenden oder rassistischen Bilder, die auf die ‚Zigeuner‘ projiziert werden, sind keine objektiven Abbilder der Sinti und Roma und ihrer Lebensrealität. Sie sind Gegenbilder zum Bild des abhängigen, arbeitsamen und disziplinierten Staatsbürgers. Sie spiegeln dessen Hass, Neid und Sehnsucht wider, seine Ambivalenz zwischen Verachtung und Faszination. Himmler hat sehr gerne ‚Zigeunermusik‘ gehört und er wollte ja auch 30 ‚reinrassige Stämme‘ in einer Art Homeland am Südufer des Neusiedler Sees ansiedeln. Hitler hat das aber abgelehnt. Also ‚Zigeunerliebe‘ und Völkermord sind kein Gegensatz.

Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch, welchen Niederschlag das in der Nachkriegszeit gefunden hat. Nach der Massenvernichtung tauchten plötzlich in den kleinbürgerlichen Schlafzimmern der 50er Jahre diese Wandbilder mit verlockenden Zigeunerinnen auf. Es handelte sich um sogenannte Schlafzimmerbilder, die man über dem Ehebett aufgehängte. Es wurde auf den Bildern vollkommen unbefangen eine ‚Zigeunererotik‘ in Szene gesetzt, eine, die man ihnen unterstellt, die aber in Wirklichkeit Ausdruck einer Wunschfantasie ist. Es geht um das verführerische und wilde Weib, verlockend und fremd zugleich. Und mit ziemlich entblößtem … Das habe ich auch für Literatur und Märchen beschrieben, dass sie gern in Lumpen gehüllt werden, weil Lumpen eben auch Durchblicke gestatten. Diese Schlafzimmerdekoration ist ein unglaubliches Beispiel dafür, wie sehr die Verbrechen des Dritten Reichs ignoriert wurden.

Asoziale und Kriminelle

Der Umgang mit den realen Personen, den überlebenden Sinti und Roma nach dem Krieg, war von keiner Einsicht in irgendeine Schuld getrübt. Zwar hatte man an ihnen einen Völkermord begangen, was von namhaften Historikern bis heute bestritten wird – bis zu einer halben Million Menschen aus aller Herren Länder wurden systematisch umgebracht. Dennoch hat man Überlebende, die aus den Lagern in die deutschen Städte und Gemeinden zurückkehrten, sogleich wieder polizeilich erfasst, in ‚Zigeunerlagern‘ abgesondert und schikaniert. Man hat sie aus der Gruppe der Opfer des Faschismus ausgeschlossen und damit aus der Gruppe derer, die Aussicht auf ‚Wiedergutmachungszahlungen‘ hatten. Viele bemühten sich vergeblich, Anträge wurden in der Regel negativ beschieden. Das Argument der Richter und Gutachter war, sie seien nicht als Ethnie verfolgt und ins KZ verschleppt worden, sondern als Asoziale, als Arbeitsscheue und Kriminelle. Im Rahmen einer Präventivmaßnahme sozusagen. Damit hat man sie dann auch noch betrogen und zwar doppelt: Um ihre Anerkennung als Opfer der NS-Rassenpolitik und um ihren Anspruch auf eine ihnen zustehende finanzielle ‚Wiedergutmachung‘. Beides mussten sie sich als Bürgerrechtsbewegung durch energische Proteste und Hungerstreiks selber erkämpfen. Erwähnen muss man auch noch, dass viele der NS-Täter nach dem Krieg wieder in Amt und Würden eingesetzt wurden, zum Beispiel bei der Polizei, im Justizwesen oder auch als Ärzte im öffentlichen Dienst. In Marburg musste der Bruder vom alten Herrn Strauß eines Tages wegen der ‚Wiedergutmachung‘ aufs Gesundheitsamt, und dort stand er plötzlich dem Arzt aus Auschwitz gegenüber.

Am Schluss möchte ich noch sagen, dass in Zeiten sprunghaft ansteigender Fremdenfeindlichkeit deutlich gemacht werden muss, dass aus der Verbindung alter und neuer Vorurteile sehr schnell ein lebensgefährliches Feindbild entsteht und dass bei dessen Etablierung in der Mehrheitsgesellschaft Staat und Medien unübersehbar sekundieren.“