Die Realität verändern in fünf Schritten: Bewegung aus dem Nichts

Der serbische Revolutionsexperte Srđa Popović liefert das Einmaleins einer modernen Bewegung.

Srđa Popović ist geschäftsführender Direktor der Revolutionsagentur CANVAS Bild: Patrice Normand/laif

Soziale Bewegungen – der lose Zusammenschluss kleiner Personengruppen, geeint durch ein gemeinsames Anliegen – haben im Laufe der Geschichte bedeutende Veränderungen herbeigeführt. Die Frauenrechts- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, die indische Unabhängigkeitsbewegung, die Farbrevolutionen in Osteuropa, und der Arabische Frühling gründeten sich ausnahmslos darauf, dass sich jene ohne Macht gegen die Mächtigen verbündeten. Jetzt ist erst recht der Zeitpunkt gekommen, um die Durchschnittsbürger für die Werte von Freiheit, Demokratie und Toleranz zu mobilisieren – Werte, die wir als privilegierte Bewohner der »westlichen Welt« sehr lange als selbstverständlich vorausgesetzt haben. Ob es nun um sauberere Straßen, sicherere Wohnviertel, bessere Bildung oder mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen geht – vielleicht ist für diejenigen, die einen Wandel anstreben, der Zeitpunkt gekommen, sich ein paar nützliche Fähigkeiten anzueignen.

Damit eine Bewegung – egal wie groß oder klein sie ist – wirkungsvoll ist, muss sie ein paar einfachen Schritten folgen.

Srđa Popović ist Gründer der serbischen Jugendbewegung Otpor!, die Slobodan Milošević stürzte.

Heute ist er geschäftsführender Direktor des Center for Applied Nonviolence Action and Strategies (Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien, CANVAS).

 

Zuletzt erschienen: Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt. S. Fischer, 2015. - 240 Seiten, 18,95 Euro

1. Schritt: Glauben Sie an sich selbst

Ich habe die letzten zehn Jahre meines Lebens im Gespräch mit Aktivisten aus der ganzen Welt verbracht, die Veränderungen herbeiführen wollten. Sie können mir glauben, ich wäre ein sehr reicher Mann, hätte ich jedes Mal fünf Euro bekommen, wenn diese aufstrebenden Aktivisten unsere Bekanntschaft mit dem Satz begonnen haben: »Mir gefällt, was Sie lehren, und ich weiß, dass es in Serbien funktioniert hat, aber hier wird es nie eine Revolution geben.«

Und gleichzeitig habe ich erlebt, dass viele genau jener Leute sich einen Ruck gegeben und erfolgreiche Bewegungen angestoßen, ihre Communitys wesentlich beeinflusst und sogar revolutionäre Umbrüche in ihren eigenen Ländern bewirkt haben. Egal ob Sie mit Angst, Unterdrückung oder schlichtweg Gleichgültigkeit konfrontiert sind, es ist immer möglich, Menschen aufzurütteln, damit sie sich für eine Sache einsetzen. Insofern ist der erste Schritt auf dem Weg zur Veränderung oder Revolution tatsächlich, daran zu glauben, dass diese möglich ist, ganz egal wer oder wo Sie sind, und Ihre Kräfte einzusetzen, worin auch immer diese bestehen mögen.

Wenn Sie keine Verantwortung übernehmen, wenn Sie nicht gegen die Dinge kämpfen, die Sie stören, wenn Sie nicht an sich selbst glauben – wer soll es denn dann tun?

Das ist von grundlegender Bedeutung in einer Zeit, in der wir, wie Alan Bryman es genannt hat, die Disneyfizierung unserer Gesellschaft erleben – jenen Prozess, bei dem die Prinzipien der Disney-Vergnügungsparks immer mehr Bereiche der US-Gesellschaft und alsdann der restlichen Welt dominieren. Als eine der Dimensionen der Disneyfizierung beschrieb er den »hybriden Konsum – einen allgemeinen Trend, bei dem die den institutionellen Bereichen zugeordneten Konsumformen miteinander verzahnt werden und zunehmend schwerer auseinanderzuhalten sind«. Während sich George Ritzers Parallelkonzept der McDonaldisierung mit der Verbreitung der mit dem Fastfood-Restaurant assoziierten Prinzipien beschäftigt hat, soll die Disneyfizierung die Aufmerksamkeit auf die Verbreitung jener Prinzipien lenken, die durch den Disney-Vergnügungspark exemplifiziert werden. Die Antriebskraft der Disneyfizierung ist der Konsum, der sich bemüht, dort Vielfalt und Differenz zu schaffen, wo die McDonaldisierung Vereinheitlichung und Gleichförmigkeit anrichtet.

»Das Essen eines durchschnittlichen Hamburgers von McDonald’s oder Burger King mag den Vorteil besitzen, billig ein Grundbedürfnis (Hunger) in einer vertrauten Umgebung zu stillen. Doch disneyfizierte Restaurants neigen dazu, ein Erlebnis zu vermitteln, das den Eindruck von Andersartigkeit oder gar des Spektakulären erweckt, während man sich an einem Ort befindet, der sich begünstigend auf die Wahrscheinlichkeit auswirkt, dass die Konsumenten sich auch an anderen Formen des Konsums beteiligen – indem sie Merchandise-Artikeln nachjagen oder an anderen Aktivitäten einer hybriden Konsumumgebung teilnehmen.« (Alan Bryman: Disneysation of Society, SAGE Publications, 2004). Also darf niemand, der Veränderungen herbeiführen will, vergessen, dass wir zwar in einer höchst globalisierten und vernetzten Welt, zugleich aber auch im Simulacrum der Wirklichkeit leben, wie Jean Baudrillard es genannt hat, also in einem trügerischen Bild.

2. Schritt: Seien Sie einen Tag lang Harry Potter – Bestimmen Sie welchen Wandel Sie wollen

Komischerweise ist der nächste Schritt jeder erfolgreichen Bewegung, in die Rolle der Fantasyfigur Harry Potter zu schlüpfen: Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Tag lang einen Zauberstab und könnten Wunder des Wandels bewirken. Stellen Sie sich und Ihrer Kerntruppe von Aktivisten die Frage: »Was wäre anders, wenn wir einen Tag lang zaubern könnten?«

Eine eindeutige Definition dessen, was verändert werden soll, ist unabdingbar, um eine erfolgreiche Bewegung ins Leben zu rufen. Gandhi wollte die Unabhängigkeit Indiens von den Briten. Die Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA wollte Gesetze zur Aufhebung der Rassentrennung verabschieden. Die Farbrevolutionen wollten einen Führungswechsel. All das waren greifbare Ziele, zu denen Aktivisten eine Strategie entwickeln konnten.

Im Gegensatz dazu hatte die anregende und vielversprechende Occupy-Protestbewegung (oder auch das Blockupy-Netzwerk in Deutschland), die 2011 westliche Länder aufrüttelte, zwar »eine Vielzahl an Beschwerden, die sich vor allem gegen die ›erdrückende‹ Macht von Konzernen richtete«, sie formulierte jedoch nie klar, von welchem Wandel konkret sie träumte. Es reicht nicht aus, nur darauf hinzuweisen was Sie nicht mögen – Sie brauchen eine klare Vorstellung davon, was Sie stattdessen wollen.

Eine Revolution beginnt nicht mit einem Slogan, sondern mit einer eindeutigen Vision des Wandels, den Sie erleben wollen. Also nehmen Sie Harrys Zauberstab, stellen Sie sich die Veränderung vor, die Sie bewirken wollen und folgen mir zu Schritt 3.

3. Schritt: Verlagern Sie das Spektrum Ihrer Verbündeten

Nachdem Sie eindeutig definiert haben, welchen Wandel Sie herbeiführen wollen, müssen Sie nun damit beginnen, das Spektrum Ihrer Verbündeten zu analysieren. Finden Sie heraus von welchen Wählerschichten oder sozialen Gruppen auf Ihrem »Schlachtfeld« Sie aktive oder passive Unterstützung beziehungsweise zumindest Neutralität erwarten können – und von wem im schlechtesten Fall aktive oder passive Opposition. Wie Sun Zi es in Über die Kriegskunst definierte: »Kenne dich selbst, kenne deinen Feind und kenne das Terrain.« Das Spektrum der Verbündeten ist das Terrain. Ihre Aufgabe ist es, den größtmöglichen Teil des Terrains auf die Seite des von Ihnen gewünschten Ergebnisses zu ziehen.

Im Fall der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung begannen beispielsweise Martin Luther King Jr. und seine Weggefährten mit der Mobilisierung von Schwarzen im Süden der USA, doch gingen sie dann dazu über, Weiße im Norden für ihre Sache zu gewinnen. Als Harvey Milk seinen Kampf für LGBT-Rechte aufnahm, fing er bei den Lesben und Schwulen im Castro-Viertel an und weitete ihn dann auf die Heteroliberalen in der San Francisco Bay Area aus.

Um erfolgreich Wandel herbeizuführen, müssen Sie Ihre potenziellen Verbündeten finden, diese einbinden und gemeinsame Nenner mit ihnen finden. Das kann langweilig und frustrierend sein, aber glauben Sie mir, es ist der einzige Weg zum Erfolg. Wenn Sie nicht auf Einheit und Vielfalt bauen, wird es keinen Wandel geben!

4. Schritt: Erkennen Sie die Säulen der Macht

So entscheidend es ist, Verbündete auf beiden Seiten des Spektrums zu gewinnen, so wichtig ist auch, die Institutionen zu erkennen, die über die Macht verfügen, die von Ihnen angestrebten Veränderungen umzusetzen. Bei diesen »Säulen der Macht« kann es sich um lokale Gruppen handeln, wenn Sie Veränderungen auf lokaler Ebene beabsichtigen, aber auch um landesweite Institutionen wie Polizei, Medien, Bildungssysteme, Regierungsbehörden oder andere Organisationen. Wie bedeutend die Unterstützung aus der Öffentlichkeit für eine Bewegung auch sein mag – ohne institutionelle Unterstützung dürfte sich nur wenig ändern.

Druck auf diese Institutionen oder »Säulen der Unterstützung« auszuüben, damit diese Ihre Vision zu ihrem Standpunkt machen, ist eine der Schlüsselstrategien erfolgreicher Bewegungen, wie groß oder klein sie auch sein mag.

5. Schritt: Machen Sie Ihre Bewegung witzig und cool

Die klassischen gewaltfreien Taktiken – Märsche, Sit-ins, Wachen und Streiks – werden zwar in den Medien als die gängigsten Methoden gewaltlosen Widerstands beschrieben, doch oft ist es einfacher, andere Menschen durch den Einsatz solch kreativer Taktiken wie Musik, Straßentheater, freche Bildsprache und Humor dazu zu bringen, sich einzulassen.

Als vor fünfzehn Jahren Serbiens prodemokratische Bewegung Otpor! noch eine winzig kleine Gruppe aus zwanzig Studenten ohne Geld war, beschlossen wir, einen Streich zu spielen. Wir nahmen ein Ölfass, befestigten ein Bild des serbischen Diktators Slobodan Milošević darauf und stellten es mitten in Belgrads größtem Einkaufsviertel auf. Daneben legten wir einen Baseballschläger. Dann setzen wir uns in ein Café und beobachteten, wie das Vergnügen seinen Lauf nahm. Es dauerte nicht lange, bis Dutzende von Passanten die Straße säumten, die alle auf eine Gelegenheit warteten, um zum Schlag gegen Milošević auszuholen – dem Mann, den so viele verabscheuten, den die meisten jedoch nicht zu kritisieren wagten.

Doch der eigentliche Spaß begann, als die Polizei eintraf. Was würde Miloševićs Polizei unternehmen? Sie konnten die Passanten nicht festnehmen – dazu fehlte jede Grundlage. Und sie konnten uns, die eigentlichen Urheber dieses subversiven Scherzes, nicht verhaften, da wir weit und breit nicht zu sehen waren. Was machte also Miloševićs Polizei? Das Einzige, was ihnen übrig blieb: Sie verhafteten das Fass. Das Bild der beiden Polizisten, die das Fass zum Streifenwagen schleppten, war monatelang der beliebteste Schnappschuss Serbiens. Mit Kreativität war es uns gelungen, das Symbol der Angst in eine satirische Pointe für unsere Mitbürger zu verwandeln.

Obwohl den Initiatoren gewaltloser Bewegungen üblicherweise Gandhi oder Martin Luther King Jr. als Vorbilder dienen, waren diese bei all ihren vielen Tugenden einfach nicht so unterhaltsam. Wenn Sie es im Internetzeitalter darauf anlegen, eine Massenbewegung in kürzester Zeit anschwellen zu lassen, könnte sich Humor als ihre Hauptstrategie erweisen. Außerdem hassen die Mächtigen im Großen und Ganzen Scherze.

Insofern: Ja, grundlegender Wandel ist möglich und, ja, Sie könnten durchaus die richtige Person für diese Aufgabe sein. Auch wenn Aktivismus anspruchsvoll, anstrengend und manchmal gefährlich sein kann und Sie vielleicht von Personen kritisiert werden, die nicht verstehen, warum Sie Ihre Zeit lieber damit verbringen, sich für Veränderungen einzusetzen, als einfach nur in der Kneipe zu sitzen, könnte dies eine der lohnendsten Sachen Ihres Lebens sein.

Eine friedliche Bewegung ins Leben zu rufen, um Veränderungen voranzutreiben – oder Teil davon zu sein –, ändert einfach Ihre Selbstwahrnehmung. Ganz zu schweigen davon, dass Sie außerdem die Welt um sich herum verändern können.

Von Srđa Popović

Übersetzung aus dem Englischen: Birgit Kolboske

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