Debatte Narzissmus und Langeweile: Kreislauf des ewigen Blödsinns
Wir dürfen nicht zugeben, dass wir gelangweilt sind. Wir müssen immer etwas tun. Immer immer immer. Tippen, klicken, chatten, joggen, trinken.
I ch muss euch etwas gestehen. Ich langweile mich. Ja, ich weiß, ich bin ein Sünder. Los, verbrennt mich auf dem Scheiterhaufen eures puritanischen Calvinismus, eures selbstgerechten, durch und durch – tja – langweiligen Glaubens, dass Langeweile selbst ein moralischer Defekt ist.
Es gibt keinen langweiligeren Gedanken – ich komme später noch einmal darauf zurück.
Wovon ich gelangweilt bin? Von allem. Blogs, Musik, Kunst, Business, Gedanken, Politik, Tweets, Filme, Wissenschaft, Mathematik, Technik … aber mehr noch: Ich bin gelangweilt vom Zeitgeist, von der Stimmung der Generation, der Richtung des Jetzt, den Gedanken der Gegenwart.
britischer Ökonom und Autor, ist Direktor des Havas Media Labs. Von „Thinkers50“ wird er zu den fünfzig wichtigsten Denkern im Bereich des Managements gezählt.
Es tut mir leid, aber es ist wahr: Das alles langweilt mich so sehr, dass ich taub und stumm werde.
Unsere Gesellschaft belohnt Narzissmus und nicht Individualismus. Die Politik zieht Toleranz der Akzeptanz vor. Ironie ist wichtiger als Ernsthaftigkeit. Chancen sind wichtiger als Anstand. Wir arbeiten härter, um ärmer zu werden, in Jobs, die wir hassen, in denen wir Dinge tun, die den letzten Tropfen Leidenschaft aus unseren Seelen saugen, um Zeug an alle anderen zu verkaufen, die härter arbeiten, um ärmer zu werden, in Jobs, die sie hassen, in denen sie Dinge tun, die den letzten Tropfen Leidenschaft aus ihren Seelen saugen.
Je mehr wir tun
Gelangweilt zu sein bedeutet nicht, gleichgültig zu sein. Nur müde. Erschöpft. Und genau dahin – und nur dahin – führt das alles. Wir werden gemocht, nicht geliebt, sind attraktiv, nicht schön, schlau, nicht klug, frech, nicht glücklich, begünstigt, nicht wohlhabend.
Es erschöpft uns, dieses Spiel, in dem wir das begehren, was alle begehren. Es macht uns zu Gegnern, nicht untereinander, sondern zu Gegnern unserer selbst. Bis nichts mehr übrig ist. Nicht von dem, wie wir sind, sondern von den Menschen, die wir hätten sein können. Unser Potenzial als Menschen, als Gesellschaft – schrumpft. Und so werde ich immer müder.
Mit Erzkonservativen, die auf die Straße gehen, begann in den USA der Aufstieg einer rechten Bewegung. Sind Anti-Homo-Proteste und AfD erste Anzeichen einer deutschen Tea Party? Eine Spurensuche in der taz.am wochenende vom 23./24. August 2014. Christine Preißmann ist Autistin und Psychotherapeutin. Ihre Patienten profitieren. Und: Der rote Kretschmann: Ein Portrait von Bodo Ramelow, der vielleicht der erste Ministerpräsident der Linken wird. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ah, sagt ihr. Hat die Menschheit nicht immer unter all dem gelitten? Bitte. Jetzt nicht alles zerreden. Solange ihr nicht denkt, dass die Mittelschicht etwas Großartiges hervorbringen wird, solange ihr nicht denkt, dass der Gentleman, der 47 Folgen von „Saw“ gedreht hat (bis jetzt), der Alfred Hitchcock unserer Generation ist, solange ihr glaubt, dass diese Epoche einen John Lennon hat, solange ihr Jeff Koons für Picasso haltet – vielleicht versteht ihr, was ich sagen will. Ich bin gelangweilt, kurz gesagt, von etwas, was ich den Kreislauf des ewigen Blödsinns nennen würde. Gelangweilt von der Blödsinnsmaschine. Diese Blödsinnsmaschine verwandelt das Leben in Müll.
Die Blödsinnsmaschine arbeitet ungefähr so: Der Narzissmus, mit dem ihr darüber nachdenkt, wer ihr seid, führt zu Zynismus darüber, wer ihr sein könntet, führt zur Durchschnittlichkeit dessen, woran ihr arbeitet. Führt zu Narzissmus. Narzissmus führt zu Zynismus führt zu Durchschnittlichkeit … führt zu Narzissmus.
Die Blödsinnsmaschine – das ist die Arbeit, die wir tun, um ein Leben zu leben, das wir nicht brauchen oder wollen.
Alles ist jetzt Arbeit. Beziehungen, Hobbys, Sport. Sogar die Liebe. Zermürbend, langwierig, unerbittlich, leidenschaftslos, kalkuliert, vorhersagbar. Vermint, getimt, performt.
Alles, was das Leben wertvoll macht
Arbeit ist Blödsinn. Ihr wisst es, ich weiß es, die Menschheit hat es immer gewusst. Sicher, ihr müsst daran arbeiten, wenn ihr etwas erreichen wollt. Aber das Aufblitzen des Geistes, der Schimmer der Intuition, der Nachgeschmack des Erfolgs, das Auskosten der Erfahrung, die Glut des Bedeutungsvollen; all das macht das Leben wertvoll. Das ist der Zweck. Arbeit ist nur das Mittel.
Wir sind so verwirrt. Haben Mittel ohne Zweck, wohnen nach Schablonen, erledigen Dinge, aber erleben nichts. Erinnert ihr euch, dass ich den puritanischen Calvinismus erwähnt habe? Der besagt, dass Langeweile ein Mangel an Rechtschaffenheit ist – und dass das der langweiligste Gedanke der Welt ist? Genau das ist die Batterie, die die Blödsinnsmaschine lädt.
Wir dürfen nicht zugeben, dass wir gelangweilt sind. Wir müssen immer etwas tun. Immer immer immer. Tippen, klicken, chatten, joggen, treffen, trinken, Freundschaftsanfragen auf Facebook beantworten. Work hard, play hard, live hard. Arbeite an dir. Optimiere dich. Erreiche etwas.
Moment. Ich schalte kurz den mürrischen Großvater-Modus an. Klick.
Wir machen mehr, aber erreichen nicht viel
Erinnert ihr euch daran, dass die Cafés voll mit Menschen waren … die nachgedacht haben? Findet heute mal eines, in dem die Menschen nicht tindern, twittern, facebooken, [appdernanosekunde]en, wie rasend. Sie krümmen sich wie die wahren Gläubigen unter dem Glanz eines geistigen Paradieses, das sie nie betreten dürfen. Und genau das ist der Grund, warum sie von ihm wie hypnotisiert sind.
Die Chance auf ein perfektes Leben – sie wartet nur eine Abzweigung weiter. Als wäre unsere Seele ein Spielautomat. Der Jackpot ist nur eine Münze entfernt – für immer. Wen würde das nicht verführen?
Eine Milliarde Menschen, die twittern, updaten, surfen, sich herumschlagen, in die Leere klicken, sie können sich nicht irren. Oder?
Und darin liegt das Paradox der Blödsinnsmaschine. Wir machen mehr, als Menschen jemals getan haben. Aber wir erreichen nicht viel, und aus uns wird immer weniger. Je mehr wir tun, desto passiver werden wir. Gefügig. Gefällig. Als ob wir alles nur noch mechanisch abspulen würden.
Warum? Ihr seid wie Gespenster, jongliert eine Vielzahl eurer Ichs durch den Lärm – das Ich, dass ihr auf Facebook seid, auf Twitter, Tumblr, Tinder, wo auch immer … in eurem Job, den ihr tagsüber macht, in eurem Job, den ihr nachts macht, in eurem Hobby, eurer Beziehung, eurer Sexfreundschaft, eurer erstaunlichen Palette an außerschulischen Aktivitäten. Aber diese Fragmentierung nährt eine Art der Schizophrenie; nährt Trennungen, Spannungen, Beklemmungen, Paranoia. Die Gesellschaft bringt unser wahres Selbst nicht zur Welt. Das Selbst mit Begabung, das voller Wunder.
Desto passiver werden wir
Klick, klick, klick. Wir sind kaum da, in unserem eigenen Leben, in den Momenten, auf die wir eines Tages zurückschauen werden und uns fragen: Was haben wir uns eigentlich dabei gedacht, unser Leben mit Dingen zu verschwenden, auf die es überhaupt nicht ankommt?
Die Antwort ist natürlich, dass wir nicht nachgedacht haben. Wir haben keine Zeit, um nachzudenken. Gedanken sind Luxus, Gefühle sind sogar ein noch größerer Luxus. Gedanken und Gefühle bremsen das Wachstum, belasten die Produktivität, sie verlangsamen die irre Beschleunigung der Blödsinnsmaschine.
Da stehen wir also. Die Blödsinnsmaschine will uns weismachen, dass das Kleine groß ist, das Böse gut, die Lüge wahr. Dass wir abwesend anwesend sein können. Wir glauben daran und werden weiter mit Blödsinn gefüttert. Bis wir völlig erschöpft sind.
Scheiß drauf. Gebt es einfach zu. Ihr seid genauso gelangweilt wie ich.
Glückwunsch!
Willkommen in einer Welt jenseits der Blödsinnsmaschine.
Aus dem Englischen von Steffi Unsleber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“