Kolumne Das Schlagloch: Alles ist vurscht!

Im Internet kursiert viel Quatsch, und es gibt kein Zaubergemüse gegen Krebs. Aber in der veganen Bewegung ist Platz für Dicke und Dünne, Glatte und Faltige.

Ja, auch Bio-Zitrusfrüchte können vurscht sein Bild: dpa

Es gibt endlos viele Argumente für’s Vegan-Sein. Wir beenden unsere Komplizenschaft mit einem System, das Tiere gnadenlos ausbeutet und milliardenfach tötet; wir schonen die Umwelt; wir machen zumindest einen kleinen Schritt in Richtung einer gerechteren Verteilung von Ressourcen – Land, Wasser, Nahrung – zwischen allen Menschen.

Und auch ich persönlich glaube, wie viele andere, dass die vegane Ernährungsweise gesünder ist. Aber ich schreibe nicht ohne Grund, dass ich’s nur glaube. Denn nach allem, was so nach außen dringt, ist die Ernährungswissenschaft eine ähnliche präzise Wissenschaft wie die Wettervorhersage, sprich, es herrscht wildes Raten und Spekulieren.

Auf jeden, der meint, dass tierisches Protein die Calciumaufnahme hemmt und dass somit bei Veganern das Osteoporoserisiko sinkt, kommt ein anderer, der umgekehrt meint, man müsse Osteoporose mit Milch vorbeugen.

Sowie ein Dritter, der meint, Veganismus lasse blaue Punkte auf der Nase sprießen. – Gut, dann laufe ich halt mit blauen Punkten herum. Aber unser Hauptargument beruht doch zum Glück nicht auf der Bekömmlichkeit dieser oder jener Nahrung! Klar ist Veganismus unheimlich gesund – aber bombenfest erwiesen ist das eben erst für die Tiere, die wir nicht quälen und essen, und nicht für uns Menschen.

Überall Wundermittel

Dennoch gibt es Veganer, denen die erwähnten Vorzüge offenbar nicht genug sind. Es reicht ihnen nicht, die Tiere, die Erde und die Hungernden zu retten. Nein, sie wollen noch höher hinaus, möglichst bis zur Unsterblichkeit. Sie schöpfen Hoffnung aus Fotos von 90-jährigen Veganern, die aussehen wie 50. Gut, die mag es geben, aber unter den fast sieben oder sechs Milliarden Fleischessern wird’s wohl auch welche geben, die mit 90 noch schöne Haut haben. Und wenn die sogar noch schönere Haut haben, essen wir alle dann wieder tote Tiere?

Wenn ich rekapituliere, was für Wundermittel gegen Krebs mir in den letzten Monaten auf veganen Facebook-Seiten angepriesen wurden, könnte man meinen, dass Veganer überhaupt nie sterben. Denn irgendetwas, das sie verzehren, wunderheilt doch immer. Gefrorene Zitronen („einfach nur bisschen was übers Essen reiben“), aber auch alles, was aus dem heimischen Garten kommt, was man von einem Baum abschneiden kann und irgendwie grün ist.

Im Grunde muss man auch nur ganz wenig Zaubergemüse essen, es besitzt ja unglaublich viel Nährwert. Neulich las ich, Gurken enthielten 50 Prozent und Tomaten 40 Prozent Eiweiß. Da wagen es Schulmediziner doch tatsächlich zu denken, Gurken bestünden vor allem aus Wasser! In den Delirien rohköstlicher Esoterik weiß man es besser.

Selbst schuld am Krebs?

Dieses Hochloben von Wundernahrung ist eine Frechheit angesichts von Krebskranken, die sich tapfer von Chemotherapie zu Chemotherapie mühen und damit einen Lebenswillen beweisen, von denen wir Gesunden nicht einmal ahnen. Sind sie selbst schuld an ihrem Krebs, weil sie nicht immer gefrorene Zitrone parat hatten? Oder müssen wir nicht letztlich alle dieselbe bittere Pille schlucken: Wir Menschen sind verletzliche und potentiell gebrechliche Wesen.

Auch noch gesunde Veganer werden Knieschmerzen haben, Hüftoperationen, Schlaganfälle, Herzinfarkte. Irgendwelche körperlichen Funktionen lassen bei jedem mit dem Alter nach, und an irgendetwas werden wir schließlich sterben. Keine schöne Vorstellung.

Aber warum können wir nicht schon jetzt eingestehen, dass auch wir selbstverständlich nicht die volle Kontrolle über unsere Körper haben – ganz gleich, was wir essen, ganz gleich, wie wir turnen? Lebewesen kommen auf die Welt, wachsen heran, siechen und sterben.

Es ist doch nicht Ablehnung der Biologie um uns herum und der eigenen Körper, die uns hat vegan werden lassen, sondern gerade die Verbundenheit mit anderen Tieren. Wir sind mit ihnen verwandt und teilen mit ihnen, dass wir körperliche Wesen sind und Körper eben verletzlich und vergänglich.

Übrigens: Diese Körper werden auch runder. Weicher. Ach was, ich trau mich, das böse Wort auszusprechen: dicker! Jawohl, nicht alle, aber viele menschliche Körper legen bei guter Ernährungslage und zunehmendem Alter Fettreserven an. Fett ist der neue Dracula: Manche Leute müssen sich eine Fettzelle nur vorstellen und fangen schon an, sich zu fürchten!

Aber es ist nicht böse, dick zu sein. Ich zum Beispiel bin gerne so großzügig gepolstert; ich mag, wie es aussieht und wie es sich anfühlt. Ganz nebenbei laufe ich damit als Werbung für das leckere vegane Essen durch die Gegend, und immerhin sind es ja ehrlich erworbene Pfunde.

Veganismus für alle

Womit ich nicht sagen will, dass sich jetzt alle mehr anfuttern sollen – sondern dass es schlicht wurscht ist, welches äußere Format Veganer haben. Vurscht! In der veganen Bewegung (und auch sonst) ist Platz für Dicke und Dünne, Glatte und Faltige, Bewegliche und Couch-Potatoes – auch für Zitronen und proteinreiche Tomaten natürlich. Nur halt nicht für Lookism und Ageism! Die, nebenbei bemerkt, in perfektem Einklang mit der kapitalistischen Logik stehen, die die Ausbeutung der Tiere perfektioniert hat.

Mit das Schönste am ethischen Veganismus ist für mich, dass sich in ihm so viele progressive Anliegen kreuzen: Veganismus ist eben nicht Engagement für’s Tier – und dabei gegen den Menschen. Oder nur für ein paar Menschen, dann aber auf Kosten der Umwelt. Oder nur zum Schutz der Umwelt, aber zu Ungunsten mancher Tiere (die angeblich zu dieser Umwelt nicht passen).

Beim Veganismus kommt alles zusammen, und während man das eine tut, muss man sich das andere nicht vorwerfen. Wieso sollten wir diese schier einmalige Position verlassen? Wieso sich in unnötige Komplizenschaft mit anderen Formen des Ausschlusses – von Älteren, Dickeren, Kränkeren – begeben? Wieso nicht bei der Grundaussage bleiben: Wir Menschen sind auch Tiere. Wir wollen mit anderen Tieren möglichst verträglich und gewaltfrei leben. Wir wollen leben und leben lassen.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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