Reisebericht Nord-Marokko Oktober 2009: Mit Menschenrechten in die Moderne

Ulrike Mast-Kirschning, Journalistin bei der Deutschen Welle, war Teilnehmerin der taz-Reise nach Nord-Marokko im Oktober 2009. Das Reiseprogamm ist seitdem teilweise geändert.

Stadtteilgruppe 'Intilaka' in Sidi Bernoussi, einem Vorort von Casablanca Bild: Dagmar Lemke

„Es ist der schönste Stadtteil der Welt“ sagt ein junger Arbeitsloser und die Reisenden aus Deutschland können diese Begeisterung erst später verstehen. Sidi Bernoussi ist ein einfaches Viertel in Casablanca. Marokkaner der schmalen Mittelschicht sucht man hier fast so vergebens, wie die Wohlhabenden. Der junge Mann engagiert sich im Verein „Intilaka“. Das heißt Aufbruch und soll Bewegung in das Viertel und in die Gesellschaft bringen.

Mit den letzten Sonnestrahlen des Tages erzählen sieben junge Männer und Frauen des Vereins in ihrem garagenartigen, kleinen Büro über ihre Arbeit: Sie wollen mehr Kinder motivieren, ins Gymnasium zu gehen und die öffentlichen Schulen verbessern, damit das Menschenrecht auf Bildung nicht nur auf dem Papier steht. 150 Jugendliche haben sie bereits über die Veränderungen des marokkanischen Familienrechts aufgeklärt und ausgebildet. Nicht nur um die Situation der Frauen zu verbessern, sondern um die traditionelle, patriarchal geprägte soziale Situation in den Familien zu verändern.

Der Motor sind die Jugendlichen, berichten sie. Alles startet mit einem Treffen in den Schulen. Hier werden Interessenten gesucht, Moderatoren aufgebaut, Inhalte festgelegt und alles in einer Art Schneeballsystem verbreitert. Jüngstes Projekt – als Genderprojekt von der deutschen Entwicklungshilfeorganisation GTZ – unterstützt: Mehr Bürgerbeteilung in der Stadtteilpolitik.

Über Hundert Schülerinnen und Schüler konnten sie zum Mitmachen gewinnen, fast die Hälfte von ihnen sind Mädchen, erzählt Najdia Ziaré, die 21jährige Studentin und Generalsekretärin des Vereins. Inzwischen bei Kerzenschein, denn Lampen gibt es keine in dem kargen Büro.

Basisarbeit im Zelt

Vor den Kommunalwahlen im vergangen Jahr haben sie an zentralen Stellen des Viertels Zelte aufgebaut und vorbeigehende Passanten ins Gespräch verwickelt. Rund 2000 Menschen ließen sich dann schließlich interviewen, erzählten über ihre politischen, sozialen und ökonomischen  Probleme.

Und so erfuhren die Interviewer viel über ihr Viertel in dem es keine Grünflächen gibt. Viele der 164.000 Bewohner leiden unter den Umweltproblemen der umliegenden Industrien. Die Waschmittelproduktion verursacht Allergien  und Asthma. Auch die Abgase belasten die Gesundheit. Aber es gibt keinen Arzt und keine Medikamente. Der Zustand der Strassen und des öffentlichen Verkehrs wird kritisiert, die fehlende Transparenz der Kommunalverwaltung, die Schließung des Jugendzentrums und manches mehr. In öffentlichen Foren informieren die Jugendlichen die Bürger von Bernussi über die Ergebnisse, entwickeln daraus einen Forderungskatalog der den Parteien und Behörden übergeben wird. Und: sie informieren die Wähler darüber, dass sie sich registrieren lassen müssen, um überhaupt wählen zu können.

Vor der nächsten Wahl 2014 will „Intilaka“ evaluieren, welche Forderungen erfüllt und welche Wahlversprechen eingehalten worden sind.  Auch diese Ergebnisse sollen öffentlich gemacht werden. Denn es gibt ein Grundproblem erzählt Najdia: „Wer sich wählen lässt, macht das nicht, um Probleme zu lösen, sondern um Zugang zu Vorteilen zu bekommen – und das wollen wir ändern.“

Habous-Viertel in Casablanca Bild: Dagmar Lemke

Gewalt gegen Frauen – kein Tabu mehr?

Weiteren Stationen in Casablanca offenbaren die Probleme der Frauen: die ökonomische und physische Gewalt. Sexuelle Gewalt und Gewalt gegen Frauen  in der eigenen Familie – ein Thema dass seit 1995 Stück für Stück das Licht der marokkanischen Öffentlichkeit erblickte. Das Tabu ist vorbei, behauptet eine Mitarbeiterin des ersten Frauenberatungszentrums, eines von 60, die es inzwischen in ganz Marokko gibt.

Hier bekommen Frauen juristische Hilfe und psychologische Unterstützung, wenn sie Gewalt erfahren, wenn sie den Ehemann verlassen wollen, oder er sie verstoßen hat. Eine großes Problem für viele Frauen. Rund 70 Prozent der Marokkanerinnen haben kein eigenes Einkommen, und der größte Teil der getrennt lebenden Männer zahlt keinen Unterhalt. Die Analphabetenrate liegt offiziell bei 55 Prozent, der Anteil der Frauen ist größer. Um Überleben zu können, suchen die Frauen Arbeit im informellen Sektor, wenn die Familie nicht einspringen kann.

Gewalttätige Männer werden vor marokkanischen Gerichten inzwischen auch zu langen Haftstrafen verurteilt. Zum Schutz der Frauen müsse aber mehr getan werden, erläutern die Aktivistinnen. Nach der Reform des Familiengesetzes, fordern sie jetzt ein Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen. Frauenhäuser gibt es in ganz Marokko nur vier, zwei davon immerhin in Casablanca.

Solidarität mit ledigen Schwangeren

Grausamkeit gegen Frauen erlebte auch die gelernte Krankenschwester Aicha Chenna: ledigen Schwangeren wurde – damals, in den 1980er Jahren - bereits auf der Entbindungsstation das Baby weggenommen. Eine außereheliche sexuelle Beziehung galt als Prostitution und so drohte den Frauen unmittelbar nach der Entbindung eine Gefängnisstrafe. Auch heute noch gilt: „Schwanger sein und nicht verheiratet, das ist h’chouma, eine Schande und so ziemlich das Schlimmste, was einer jungen Frau in Marokko passieren kann.“

Aicha Chenna gründete deshalb 1985 die „Association Solidarité“, die heute mitten in Casablanca ein Restaurant mit preiswertem Mittagessen betreibt. Schwangere und junge Mütter finden hier einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz, ebenso wie im nicht weit entfernten Hammam. Auch das hochmoderne Badehaus mit Frisiersalon und Fitness-Studio gehört zur Association. Es bietet den Frauen eine Existenzgrundlage und die Perspektive, zukünftig als alleinerziehende Mütter mit einer abgeschlossenen Ausbildung auf eigenen Füßen stehen zu können. Wer es geschafft hat, muss gehen, Platz machen für die nächste, die ungewollt schwanger geworden ist. 

Chefchaouen im Rif-Gebirge Bild: Brigitte Kurz

Für ihr religiös–humanitäres Engagement erhielt die bekennende Muslimin am 4. November 2009 in Minneapolis den mit einer Million US-Dollar dotierten Preis der US-amerikanischen Opus-Stiftung. 

Über Chefchaouen im Rif-Gebirge und Fès ermöglicht die Reise in die marokkanische Zivilgesellschaft Einblicke in den Sufismus und lebendige Begegnungen mit verschiedenen Berbervereinigungen. In den schmalen, farbenfrohen  Bazarstraßen und in den traumhaften Riads dominiert die Handwerkskunst, bei der alle Marokkofans auf ihre Kosten kommen.

In der Hauptstadt Rabat werden aktuelle Probleme Marokkos erneut präsent: Praktiken, wie das Verschwinden lassen von Menschen, die Folter, die ungerechten Prozesse, berichtet Benabdesselam Abdelilah, Vizepräsident der Menschenrechtsorganisation AMDH, wiederholen sich auch in der Gegenwart. Zwar verschwänden die Menschen nicht mehr wie früher auf Dauer, aber für ein, zwei oder drei Monate.

Die Mutigen bringen die Menschenrechte voran und tragen das Risiko

Das trifft offenbar auch die Mitglieder der Bewegung der arbeitslosen Akademiker. Gut organisiert, treffen sich verschiedene Gruppen aus dem ganzen Land regelmäßig zur Demonstration in Rabat. In T-Shirts mit unterschiedlichen Farben dokumentieren  sie die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit. Lautstark fordern sie vor dem Parlamentsgebäude mehr Arbeitsplätze. Am polizeibewachten Zaun erscheinen schließlich ein paar Abgeordnete, und einige Demonstranten überreichen Namenslisten mit den jeweiligen Qualifikationen. So hoffen sie beim nächsten staatlichen Einstellungsschub dabei zu sein. Eine bislang offenbar durchaus erfolgreiche Strategie, die aber ihren Preis hat. Denn bei den Erzählungen des Menschenrechtlers wird deutlich: es sind vor allem die Mutigen, die die Grenzen des Staates in Richtung Freiheit und Demokratie ausweiten und dafür gelegentlich die Willkür des Staatsapparates erleiden.

Die meisten Verhafteten und Verschwunden seit dem 11. September 2001 – alle vermeintliche oder tatsächliche Anhänger fundamentalistischer muslimischer Strömungen – landeten in Temara, berichten die Menschenrechtsaktivisten.  Amnesty international berichtete über dieses geheime Haftzentrum in der Nähe von Rabat, das dem offiziellen Staatsapparat untersteht, genauer gesagt: der Direktion der territorialen Sicherheit. „Sie sind nicht befugt Menschen  zu verhaften oder gar zu verhören,“ beklagen die Aktivisten, „das ist doch Aufgabe der Kriminalpolizei.“

Die Moschee Hassan II in Casablanca hat Platz für 100.000 Gläubige und gilt als zweitgrößte der Welt Bild: Dagmar Lemke

Die Grausamkeiten der sogenannten bleiernen Zeit der siebziger und achtziger Jahre – die extreme Willkür gegen Oppositionelle, Linke und Berber – all das  wurde inzwischen öffentlich berichtet und diskutiert und in einer nationalen Versöhnungskommission aufgearbeitet. Zu wenig Aufarbeitung, sagen die Menschenrechtsaktivisten, einzig die Frage der Entschädigung wurde mehr oder weniger geregelt.

Dennoch sind die  Erfolge jahrzehntelanger hartnäckiger Arbeit der Menschenrechtler  unbestreitbar: Eine  aus ca. 100 Experten bestehende wissenschaftliche Kommission hat die Lage der bürgerlichen und politischen Rechte in den rund 50 Jahren marokkanischer Geschichte untersucht, dokumentiert und dadurch gestärkt. Zum Thema Menschenrechte wurde ein eigenes, 50  Beschäftigte umfassendes Ministerium eingerichtet, und die Versöhnungskommission hat neuerdings  auch  kollektive Entschädigungsprojekte für ganze Regionen geplant. In insgesamt elf Regionen in denen die lokale Bevölkerung Menschenrechtsverletzungen zum Opfer fiel oder wo illegale Haftzentren betrieben wurden. 

Menschenwürde und Entwicklung ist das Ziel

Die Projekte, die bereits in Kürze beginnen sollen, haben in der Regel zwei Ziele, erläutert ein Sprecher des Menschenrechtsministeriums: „Erstens zur Wiederherstellung der menschlichen Würde der jeweils betroffenen Bevölkerung, zweitens zur Umstrukturierung einiger dieser ehemaligen Haftzentren in Entwicklungsprojekte.“

Überhaupt habe Marokko in 2009 viele wichtige Entscheidungen für die Menschenrechte getroffen: die mit kulturellen Besonderheiten begründeten Vorbehalte gegen einige Bestimmungen des UN-Übereinkommens „zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) ist aufgehoben. Die UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen ist ratifiziert. Außerdem habe das Ministerium empfohlen, die UN-Konvention „zum Schutz vor Verschwinden lassen“ zu ratifizieren.

Schließlich wolle man sich in den kommenden Jahren stärker auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte konzentrieren: „Wir glauben, dass es noch Probleme gibt, die daraus resultieren, dass einige Gruppen in unserem Land von ihren sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechten, wie etwa das Recht auf gesundheitliche Versorgung, das Recht auf Bildung, das Recht auf Wohnraum usw. nicht profitieren“, so der Sprecher des Ministeriums. 

Intilaka - ein Aufbruch - und für diese Ziele haben sich die Jugendlichen in Casablancas Stadtteil Sidi Bernoussi bereits auf den Weg gemacht.